Von Schimpff das 20.

[19] Ein Lew gab seinen Sünen drei Ler.


Wir lesen von einem Lewen, der het zwen Sün. Die wolt er versorgen und gab jeglichem ein Frawen, und zu der Eestür gab er jeglichem Wald und drei Leren, die solten sie behalten, und sprach: ›Fröwen euch, lieben Sün, wan alle Thier sein euch underthenig, und hüten euch allein vor dem Menschen und fechten nit mit im; wan er in Stercke alle Thier übertrifft. Zů dem andern so sollen ir Frid haben mit üwern Nachbauren. Zů dem dritten so haben die Weld in Eren, die ich euch geben hab, damit das die Thier bei euch vil Jungen machen! Wan ir dise drü Ding thun und die drei Leren behalten, so gat es euch nimer übel.‹ Darnach gieng der Vatter, der alt Lew, schlaffen und ward begraben.

Der eltest Sun lebt nach den Leren seines Vatters. Aber der jung Sun, der fieng an zů kriegen und zů hadern mit denen, die bei im wonten. Und uff einmal da het sein Frau und andere in zornig gemacht, und kam sein Zorn über die Thier uß in dem Wald, und er erwürgt ir vil und döttet sie; und da das die andern Thier gewar wurden und es sahen, da flohen sie alle von im.

Das sahe er uff einmal und wolt seinen Bruder visitieren und besehen, und kam zů im und sprach: ›Lieber Bruder, wie hat es ein Handel umb dich, das du so reich bist und dir so wol gat und gat mir so übel?‹ Er antwurt im und sprach: ›Ich halte unsers Vatters Ler; aber du haltest sie nit, du kriegst und haderst mit denen, die bei dir wonen, und hast nun den Wald enteret, und weichen die Thier von dir.‹ Und fürt in mit im in seinen Wald und zögt im sein Wesen. Und da sie also in den Wald kamen, da sahen sie die wilden Thier mit grosen Huffen da gon. Und da sie lang also in dem Wald hin und her waren gan, da sahen sie ein Menschen, ein Jäger, der spant die Garn uff und wolt das Gewild jagen. Da sprach der jung Lew zu seinem Bruder: ›Bruder, sichstu nit den Bauren da gon, das er dir Schaden wil thun? Gang hin und zerreiß in und friß in!‹ Er antwurt im und sprach: ›Unser Vatter hat unß gelert, wir[19] sollen mit dem Menschen nichtz zů schaffen haben und sein müssig gon und fridsam mit im leben.‹ Da sprach der jung Lew: ›Wiltu vergessen deiner Stercke und Lewens Hertz umb der Wort willen eins alten Lewen? Er ist vor in die Aberwitz gangen; ich wil gon und wil in zerreissen und wil in fressen.‹ Und mit dem laufft er dahin und lůgt nit für sich und fiel in die Strick und in die Garn, die der Jäger het ußgespant, und ward also gefangen und gedöt.

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 19-20.
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