Der vierte Auftritt

[198] Lucie. Betty.


LUCIE. Unterstütze mich, Betty. Alle meine Kräfte sind erschöpft – O Tugend! Tugend, wie schrecklich rächst du dich an mir, die ich dich beleidiget habe!

BETTY. Wenn werden Sie doch, mitten in diesen glücklichen Zeiten der Liebe und des Vergnügens, die unnötigen Seufzer vergessen, die ich so oft von Ihnen höre.

LUCIE. Elende Betty! Dein Anblick allein ist mir schon Abscheu genug. Vermehre ihn nicht noch durch deine Reden. Bist du es nicht, die ich noch eher verfluchen muß, als ich mich selbst verfluche: ich, die ich sonst alle Menschen glücklich zu sehen wünschte? Haben nicht deine Verführungen die verdammten Schmeicheleien des Bösewichts (welcher Name für den, den ich liebe!), haben sie nicht Karl Southwell unterstützt, daß ich ihm meine Ehre, das einzige, was mein war, aufgeopfert habe? Doch nein, Betty, nicht du,[198] nicht Southwell, mein eignes unseliges Herz ist es, das mich unglücklich gemachet hat.

BETTY. Sie dauern mich, Fräulein. Wie glücklich würden Sie sein, wenn Sie einige elende Grundsätze, die Ihnen eine abgeschmackte Auferziehung eingepräget hat, ausrotten könnten! Was für lächerliche Begriffe verstehen Sie unter der Aufopferung Ihrer Ehre! Leute von Stande würden über Ihre Klagen lachen. Sie lieben Karln mit eben der Zärtlichkeit, mit der er Sie wiederliebet. Er will dasjenige, was Sie Ihre Schande nennen und was ich, wenn ich Lucie wäre, meine Glückseligkeit nennen würde, in kurzer Zeit durch eine Vermählung mit Ihnen in den Augen des Pöbels ehrwürdig machen. Können Sie mehr fodern?

LUCIE. Du weißt mein Unglück nur halb. Karl Southwell ist mir geraubt, auf ewig geraubt, mir, die ich bereits von ihm schwanger bin. Ich habe diese schröckliche Zeitung diesen Augenblick aus dem Munde seines Vaters. Er hat eine Gemahlin für ihn bestimmt. Gott! was wird Lucie werden! Die Welt wird meine Schande erfahren. Sie wird mich verachten, nicht weil ich lasterhaft bin, sondern weil ich mein Laster habe bekanntwerden lassen. Karl wird vielleicht in den Armen seiner neuen Gemahlin über mich spotten. Werde ich mein Gesicht gegen seinen Vater aufheben können? Ich werde zwar Mitleiden in seinem Auge lesen, aber ein verächtliches Mitleiden. Er wird mich verlassen. Kann ich es ausstehen? Mich verachtet, mich verspottet und von Vater und Sohne nicht länger geliebt zu sehen?

BETTY. Mit was für fürchterlichen Geschöpfen der Einbildung kämpfen Sie! Gesetzt, der alte Southwell will seinem Sohne eine Gemahlin geben, wird dieser eine andere als Sie annehmen? Kann der Vater diesem Sohne etwas abschlagen? Sie wissen, wie zärtlich Karl Sie liebet.

LUCIE. Ich fürchte, Karls Zärtlichkeit nimmt bereits nach demjenigen Grade ab, nach welchem die meinige zunimmt. Wie schwach ist eine Liebe, welche nicht von der Hochachtung unterstützet wird! Und welche Liebe kann von der Hochachtung unterstützet werden, welche nicht auf die Tugend gegründet ist?

BETTY. Mit Ihrer ewigen Tugend! Werden Sie denn nie Ihre Sittensprüche vergessen?

LUCIE. Ach Betty! daß doch meine Seele so lasterhaft wäre als die deinige! Schrecklicher Wunsch! Aber meine Ruhe erzwingt ihn. Ich will, ich muß es sein, ebenso lasterhaft als du und noch lasterhafter, wenn es möglich[199] ist. Frisch, Lucie! schreite kühn von einem Laster zu dem andern fort. Dämpfe die Martern des geringern Lasters in der Ausübung des größern. Dies ist der einzige Weg, dich zu beruhigen. Es wird dir gelingen, immer lasterhafter zu werden. Bin ich nicht schon aus einer Sklavin meiner Leidenschaften eine Heuchlerin geworden? War ich es nicht erst nur vor wenigen Augenblicken gegen den alten Southwell selbst, da ich die Schmach und den Stolz, die mich quälen, unter der heiligsten Pflicht der Natur versteckte? Sah er nicht meine Träne der Verzweiflung für eine Träne der Menschenliebe an? Verberge ich nicht noch geschickt genug meine eigne Häßlichkeit vor den Augen meiner bessern Freunde als ich, unter der Larve einer verstellten Tugend, die nicht mehr mein ist; einer Tugend, die ehedessen meine Tage heiter wie die Tage des Frühlings machete, und die jetzund für mich Nacht, Schrecken und Abscheu ist? Glückliche Zeiten! da Tugend und Unschuld meine Gespielinnen waren, da ich noch auf mein Herz stolz sein konnte, in welche schreckliche Finsternis seid ihr dahingeflohen! – Nichts mehr, törichtes Herz! Kein Klagen! Lucie kann sich von keiner Seele verachtet sehen, auch von sich selbst nicht! Stirb, Reue! Ich vergesse, daß ich glücklich, daß ich tugendhaft gewesen bin. – Betty! da kömmt der Mörder meiner Glückseligkeit, den ich doch für alle seine Grausamkeiten noch lieben muß. Wird er auch so zärtlich gegen mich sein als mein Unglück verdient?

BETTY. Verbergen Sie diese Miene voll Verzweiflung, wenn Sie keinen Dolch in das Herz eines zärtlichen Geliebten stoßen wollen.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 198-200.
Lizenz:
Kategorien: