Der fünfte Auftritt

[200] Die Vorigen und Karl Southwell.


KARL beiseite, indem er eine Bewegung machet, als ob er zurückgehen wollte. Welch feindseliges Schicksal läßt mich Lucien finden!

LUCIE. Wie? Karl, sehen Sie Ihre Lucie nicht?

KARL. Ich befürchtete, Lucien in der feierlichen Ernsthaftigkeit, in der ich sie erblickete, zu stören.

LUCIE. Sie könnten mich stören? Welche Antwort für einen zärtlichen Liebhaber? Verdienet sie diejenige, die Sie mehr als ihre eigene Seele, ja wahrhaftig mehr als ihre eigene Seele liebt.

KARL. Diese unzeitigen Klagen, die ich seit einiger Zeit höre, wie sehr haben sie nicht schon mein Herz gekränkt![200]

LUCIE. Wohl nicht so sehr als Ihr Kaltsinn das meinige.

KARL. Kaltsinn! Lucie –

LUCIE. Ich beschwöre Sie um unsrer Liebe – oder wenn ich so muß, um Ihres und meines Stolzes willen, machen Sie meine Ahndungen eitel. Beschleunigen Sie den Tag, der Ihnen vor der Welt das Recht gibt, mich die Ihrige zu nennen: ein Recht, welches Ihnen leider mein allzu leichtgläubiges Herz bereits erteilet hat. Der Sturm, der sich über mein Haupt aufzieht, muß Ihnen bekannt sein. Der Mund Ihres Vater hat Ihnen das Äußerste, das ich fürchten kann, ohnfehlbar noch eher als mir selbst entdecket.

KARL. Was will meine Lucie? Kann sie noch stärkere Proben von meiner Zärtlichkeit verlangen? Empfing ich sie nicht ebenso überzeugend von der Ihrigen? Kann Lucie heftiger als ich nach dem Tage seufzen, der mein Herz von dem Zwange entfesseln wird, meine Liebe gegen sie vor den Augen der tadelsüchtigen Welt zu unterdrücken? Wie oft verfluche ich die Hindernisse, die sich meinen Wünschen widersetzen. Ich sehe, Sie wissen den unglücklichen Vorschlag, den mir mein Vater von einer Verbindung getan hat. Lesen Sie die Qual, die ich dabei empfinde, aus meinem Gesichte, mein Herz kann sie nicht ausdrücken. Gönnen Sie mir Zeit, diesen Sturm austoben zu lassen. Meine Bitten werden das Herz des gütigsten Vaters rühren. Er wird erlauben, daß ich mein Herz seiner und meiner Lucie schenken darf. Wie glücklich werden wir dann sein, wenn es möglich ist, daß wir noch glücklicher werden können! Aber Sie wissen, einige wenige Tage sind nicht zureichend, dieses auszuführen.

LUCIE. Jeder Verzug eines Tages ist eine Vergrößerung meiner Gefahr. Sie wissen – zwingen Sie mich nicht, zu erröten. Ich verabscheue mich, so oft ich daran gedenke. Und wie? wenn Ihr Vater nicht in unsre Verbindung willigen sollte? Ein Mädchen von einer unbekannten Geburt, alles desjenigen beraubt, was in den Augen der Welt Hochachtung verdienet; und darf und kann ich es sagen? nur ehedessen durch einen geringen Anteil der Tugend vielleicht nicht ganz eine verächtliche Kreatur. Welche fürchterliche Umstände für mich! Was würden Sie tun, wenn nichts Ihren Vater von der mich bedrohenden Verbindung abziehen kann?

KARL. Es wird etwas sein, das ihn abziehen kann.

LUCIE. Antworten Sie mir auf das, was ich frage.

KARL. Sie fragen wegen einer Sache, die nicht geschehen wird.

LUCIE. Keine Ausflüchte! Anworten Sie mir.[201]

KARL. Ach! Lucie.

LUCIE. Reden Sie, was würden Sie tun?

KARL. Elend sein, wenn Sie allein mich nicht glücklich machen wollten.

LUCIE. Ich verstehe Sie nicht. Würde ich Sie sodann glücklich machen können?

KARL. Sie würden es können. Setzen Sie das Grausamste, das mir begegnen könnte. Setzen Sie, daß ich unter der Tyrannei eines Vaters unterliegen, daß ich die Liebkosungen einer andern Gemahlin erdulden und verfluchen müßte, wollten Sie wohl Ihren Southwell, der zugleich Ihrentwegen leiden würde, ungetröstet seufzen lassen? Wollten Sie ihm nicht erlauben, daß er bisweilen aus seinen täglichen Qualen in Ihre beglückenden Arme eilen dürfte? Eine vertrauliche Einsamkeit würde uns vor dem scharfsichtigsten Auge der Welt verbergen. Hier würden wir einander mehr als eine ganze Welt selbst sein, und Karl Southwell würde sich nur in den einzigen wenigen Minuten glücklich sehen, wenn seine Lucie einen ganzen Strom von Freuden über seine Seele ausgießen würde.

LUCIE. Ich verstehe Sie, Karl. Warum reden Sie dunkel? Sie verlangen, ich soll die Rechte Ihrer Gemahlin gegen die Ehre, Ihre Mätresse zu sein, vertauschen. Zur Betty. Betty! ich bin verloren. Zum Southwell. Verlassen Sie mich, Barbar! Ich verabscheue Sie.

BETTY heimlich zum Southwell. Ihr Vertrauen zu Luciens Zärtlichkeit hat Sie zu einem Fehler verleitet, den Sie so leicht nicht werden verbessern können. Laut. Schämen Sie sich, Sir Karl, konnten Sie, ohne zu erröten, Lucien einen dergleichen Vortrag tun?

KARL. Ich bekenne meine Verbrechen, Lucie. Aber warum zwangen Sie mich von einer Sache zu reden, die niemals geschehen wird?

LUCIE. Keine Entschuldigung! Ich lasse Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Meine niederträchtige Wegwerfung für Sie gibt Ihnen das Recht, mich zu verachten. Aber Lucie ist stolz, so wenig sie es zu sein Ursache hat. Soll sie sich in Ihrer Gegenwart selbst verachtet sehen? Und von wem? Von dem, der das unselige Werkzeug war, welches allein Lucien dieser Verachtung schuldig machen konnte. Elender! quälen Sie mich nicht länger durch Ihren Anblick. Wollen Sie mir diese einzige, diese letzte Bitte noch abschlagen?

KARL. Ich kann nicht –

LUCIE. So bleiben Sie denn hier, bleiben Sie hier. Strafen Sie mich durch diese Blicke voll Verachtung und Hohn für die Zärtlichkeiten, die ich[202] an einen Unwürdigen verschwendete, für die Leichtgläubigkeit, mit der ich die Ihrigen empfing. Strafen Sie mich für das schrecklichste Verbrechen, strafen Sie mich für die Tugend, die ich Ihnen aufopferte. Grausamer Southwell! warum erblickete ich doch nicht deine schwarze Seele einige Monate eher in aller ihrer Abscheulichkeit? Lucie würde sodann noch von der äußersten Höhe ihres Stolzes mit ihrer ehemaligen Größe auf eine so verächtliche Kreatur herabsehen können.

KARL. Beleidigungen sind nicht –

LUCIE. Höre noch meine Verwünschungen, ehe du mich unterbrichst. Spotte in den Armen deiner neuen Gemahlin über die elende Lucie. Sie erlaubet dir's, denn sie verdienet es. Ich wünsche sogar, liebe diese Gemahlin, liebe sie mit eben der zärtlichen Heftigkeit, mit der dich ehemals eine Unglückliche (du kennst sie, Barbar) lieben konnte. Sieh sodann, mich zu rächen, mich auf das schrecklichste zu rächen, ebendiese Gemahlin, für welche deine ganze Seele Zärtlichkeit sei, untreu. Lies in ihren Augen ebenden Kaltsinn, ebendie Verachtung, die ich in den deinigen lese. Sieh dieselbe sich in die Arme deines besten Freundes werfen, und mit ihm höre sie sodann über deine Liebe spotten und über deine Verzweiflung selbst frohlocken. Verzweifle unter den Martern einer unvergoltnen und verachteten Liebe, und Lucie wird sich sodann über dich freuen.

KARL. Erinnern Sie sich, Lucie, eine erzürnte Liebe gebiert leicht Haß, und Ihre Schmähungen werden mich gegen den Willen meines Vaters Gehorsam lehren.

LUCIE. Dürfen sie dir diesen Gehorsam erst lehren, Undankbarer? Sind nicht –

KARL. Bemühen Sie sich nicht, auf neue Beschimpfungen zu denken. Ich habe nicht Zeit, sie anzuhören. Ich muß zu meinem Vater gehen, der schon lange meine Einwilligung zu seinem Vorschlage erwartet. Rechnen Sie die Gleichgültigkeit, mit der ich Sie Ihrem Schicksale überlasse, Ihrer eigenen Heftigkeit zu. Geht ab.

LUCIE. Geh! Bösewicht, und die Rache des Himmels und meine Flüche werden dich auf jedem deiner Wege zu begleiten wissen!

BETTY. Wahrhaftig, Fräulein, Sie sind zu heftig. Erwägen Sie Ihren Zustand! Erwägen Sie, was Sie sind, wenn Sie Sir Karl verläßt.

LUCIE. Erinnere mich nicht an das, was ich bin. Soll ich mich vor demjenigen bücken, um seine Gnade flehen, der mich verachtet und doch am[203] wenigsten Recht darzu hat? Und doch kann ich mich fragen, ob ich es tun soll, ich, die ich nichts weiter als dieses zu tun übrig habe? Betty! mein Stolz, meine Tugend, meine Vernunft selbst, alles ist dahin.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 200-204.
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