Der sechste Auftritt

[204] Die Vorigen und Amalie.


AMALIE. Was für Unruhe haben Sie mir gemachet! meine liebe Lucie. Mit wieviel Angst habe ich Sie seit der Zeit gesuchet, da Sie sich so voll Schmerz aus meinen Armen losrissen. Aber mit was für vermehrterer Qual in Ihrem Gesichte finde ich Sie wieder. Wie lange, meine teure Freundin, soll doch mein Herz noch über Ihre Betrübnis seufzen müssen!

LUCIE. Warum lieben Sie mich doch, Amalie? Ihre Liebe vermehret meine Martern. Verachten, hassen Sie mich; diejenige, die sonst ohne Ihre Freundschaft, ohne Ihre Liebe nicht zu leben wünschet, bittet Sie darum. Sie haben die Schwäche meines Herzens entdecket. Kann ich aus der Tiefe, worein ich gesunken bin, zu der Höhe hinauf sehen, auf der ich Sie erblicke? Mein Stolz durfte es sonst wagen, sich mit Ihnen zu vergleichen. Kann er ohne Qual empfinden, daß Sie nunmehr über diese Vergleichung erhaben sind? Daß diese Liebe vielleicht nicht mehr Freundschaft, sondern Mitleiden, ein erniedrigendes Mitleiden ist? Wie will meine Seele diesen Gedanken ausstehen! Treten Sie zu meinen Feinden. Verachten Sie mich mit ihnen. Meine Seele wird eine Art von Erleichterung fühlen, wenn sie von niemand mehr geliebet wird, der besser als sie ist.

AMALIE. Lucie, Ihre plötzliche, Ihre ausschweifende Hitze! Oh, daß Sie dieselbe bändigen könnten! Was für eine liebenswürdige Freundin würden Sie für Ihre Amalie, was für eine zärtliche Gemahlin für Ihren Karl –

LUCIE. Nichts von Karln! Er ist ein Betrüger, ein Bösewicht! Ich hasse ihn, ich hasse mich selbst! Meine Kräfte reichen nicht zu, Ihnen mein Unglück zu erzählen. Karl ist undankbar. Er verläßt mich und ist bereit, eine neue Gemahlin von der Hand seines Vaters anzunehmen.

AMALIE. Vielleicht hat Ihre Zärtlichkeit Ihnen mehr Gegenstände zur Verzweiflung vorgestellet, als Sie wirklich gesehen haben?

LUCIE. Ihre Vielleicht sind vergeblich. Der Bösewicht und der Mund seines Vaters, beide haben mir mein Unglück bekräftiget. Den neuen Gegenstand seiner Liebe allein weiß ich nicht. Nennen Sie mir ihn, wenn Sie ihn[204] wissen. Diese letzte Gewogenheit bitte ich von Ihnen. Ich will mich zu den Füßen seiner neuen Geliebten werfen. Lucie zu den Füßen ihrer Nebenbuhlerin. Ich will sie um Rache wider den Bösewicht anflehen. Wenn sie gerecht ist, wird sie mir dieselbe versagen können?

AMALIE beiseite. Unglückliche Freundin! du siehst sie hier vor dich. Zu Lucien. Vergessen Sie alle Rache wider Karln –

LUCIE. Ich verstehe Sie. Ihre Erinnerung ist gerecht. Ich vergesse meine Rache wider ihn. An mir, an diesem eignen Herzen muß ich mich rächen. Habe ich mich nicht selbst allen diesen falschen Blicken der Zärtlichkeit, diesen betrüglichen Tränen, diesen von meiner redlichen Liebe erborgten Klagen, selbst diesen tückischen Eidschwüren eines Verführers aufgeopfert? Kannte ich sein Geschlecht nicht, dies Geschlecht, das nur uns unglücklich zu machen geschaffen zu sein scheint? Wußte ich nicht, daß es alle seine Reizungen nur alsdenn glänzen läßt, wenn es das unsrige zu betrügen suchet? Mußte ich Törin seine Triumphe über unsre Tränen vermehren helfen? Wäre Karl der beste unter dem männlichen Geschlechte, was konnte er weniger sein als ein Betrüger?

AMALIE. Ihre Hitze verführet Sie, meine Freundin, Sie beleidigen sowohl das männliche Geschlecht überhaupt als Ihren Liebhaber insonderheit. Ich hoffe noch immer sein Herz zärtlich zu sehen, ebenso zärtlich, als ich das Ihrige mitten unter den Vorwürfen, womit Sie ihn belegen, erblicke.

LUCIE. Kränken Sie mich nicht durch Ihre Entdeckung. Es ist genug, daß ich die Gewißheit derselben empfinde. Weibliches Herz! warum kann ich doch deine Schwachheiten nicht verbergen. Sie haben in sein Innerstes hineingeschaut. Sie erblicken nur allzu gewiß in demselben das Bild – wessen? meines ärgsten Feindes – von mir geliebt. Elende Schwachheit! warum erlaubest du mir nicht, ihn auszurotten? Warum zwingst du mich, zu wünschen, ihn zärtlich zu sehen? Warum nennest du meine gerechten Vorwürfe Beleidigungen? Doch ich habe ihn verloren. Meine Schmähungen haben den noch übrigen Funken seiner Liebe völlig ersticket. Er verachtet mich! Ich liebe ihn! und von seiner Verachtung gequält, muß ich verzweifeln!

AMALIE. Sie erfüllen meine Seele mit Schauer und Schrecken. Lernen[205] Sie doch dies allzu hitzige Herz bändigen. Sie sollen Karln ebenso zärtlich als sonst wieder umarmen. Ich verspreche es Ihnen. Sein Vater wird seine Einwilligung in Ihre Verbindung geben, und Ihre Amalie wird die Freude haben, ihn wieder in Ihre Arme zu führen.

LUCIE. Ja, führen Sie ihn her. Die von allen verlassene Lucie mag vor ihm niederknien. Was ist ihr Stolz, darf sie noch welchen haben? Sie mag ihn mit ihren Tränen, mit ihrer Demütigung, mit ihrer Verzweiflung selbst bestürmen. Sie mag ihn an alle die zärtlichen, aber auch, ach! auch allzu teuer erkauften Minuten erinnern, die ihr sonst an seiner Brust zu verschwinden pflegten. Wird er ein Barbar sein und sich verhärten können? »Karl«, will ich gegen ihn seufzen, »erbarmen Sie sich über Ihre verstoßne, über Ihre unwürdige Lucie. Erbarmen Sie sich nicht aus Liebe, wenn Sie nicht können, nein, nur aus Mitleiden, selbst aus Stolz, daß Sie mich gedemütiget haben. Verachten Sie mich in Ihrem Herzen und nicht äußerlich. Nur einen verstellten Blick voll Zärtlichkeit! und er wird mehr sein, als ich verdiene!« Ach, Amalie, welche schreckliche Minute der Erniedrigung wird dieses für mich sein!

AMALIE. Verschonen Sie doch Ihre Einbildung mit allen den fürchterlichen Einfällen! Die weibliche Zärtlichkeit für die Ehre muß niemals, auch selbst bei unsern Fehlern, dem männlichen Geschlechte preisgegeben werden. Karl soll Sie auf das demütigste und zärtlichste um Verzeihung bitten. Trauen Sie meinen Versprechungen. Sie werden ihm denn erlauben, daß er eben der glückliche und bald vollkommen mit Ihnen zu vereinigende Liebhaber sein darf, der er zuvor war. Suchen Sie sich indessen in Ihrem Kabinette wieder zu beruhigen. Ich befürchte, es möchte Sie jemand hier in dieser Zerstreuung überfallen.

LUCIE. Schmeicheln Sie mir nicht mit zuviel Hoffnung. Sollte es möglich sein, daß ich noch glücklich werden könnte? Und Ihnen würde ich sodann diese Glückseligkeit zu danken haben? Warum kann ich doch nicht ebenso hochachtungswürdig als Sie sein? Komm, Betty, laß uns versuchen, ob ich meine Schmerzen in der schmeichelhaften Vorstellung der Hoffnung auf einen Augenblick vergessen kann. Was für ein elendes Geschöpfe bin ich!

BETTY. Betty würde sie längst vergessen haben, wenn sie Lucie wäre.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 204-206.
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