Der neunte Auftritt

[233] Willhelm. Southwell. Robert.


WILLHELM. Rühme sie mir, wenn du kannst, rühme sie mir, diese menschliche Glückseligkeit. Noch weniger als ein Schatten ist sie, und töricht ist das Herz, das sie nur einen einzigen Augenblick zu empfinden glaubt, und seine Seufzer vergessen kann. Gott! warum schufst du das Herz des Menschen zur Freude, zur Hoffnung, zur Empfindung der Glückseligkeit selbst fähig, da der Schmerz und die Traurigkeit sein einziges Erbteil sind, das er hier zu hoffen hat? Doch ich alter Bösewicht! Will ich durch meine Klagen meinem schon schwachen Rücken noch eine Last mehr an Verbrechen aufbürden? Wenn ließ die Gerechtigkeit des Himmels je einen Verbrecher ungestraft? Und will ich der einzige sein, den sie verschonen soll? Nein, räche dich, Himmel, aber räche dich an mir allein.

ROBERT. Freund, du vergißt, daß die Prüfungen allein die Tugend groß machen können, daß sie nur alsdenn eine wahre Tugend ist, wenn sie mit ebendieser heitern, dieser gleichgültigen Miene auf ihre größten Leiden herabsteht,[233] mit der sie in ruhigern Tagen auf ihr Glück herabzusehen gewohnt war. Klagen entehren das Herz eines Sir Willhelms. Männlicher Mut und eine herzhafte Tugend sind es, die er seinem Unglücke entgegenstellen muß. Wird sodann das größte Unglück unüberwindlich gegen dich sein können?

WILLHELM. Keinen Trost, keine Ermahnung, Freund! Nur um eine einzige mitleidige Zähre bitte ich deine Freundschaft. Ach! du mußt Willhelm selbst sein, wenn du das recht fühlen willst, was er fühlet. Bilde dir ein, Luciens und meines Sohnes Vater zu sein. Finde in ihrer Glückseligkeit den einzigen Trost und die einzige Freude eines von tausend Mühseligkeiten geplagten Lebens. Sieh trotz aller deiner Wünsche und deiner Bemühungen diese Lucie unglücklich und sei selbst die unschuldige Ursache ihres Unglücks; sieh dir endlich den letzten Trost selbst geraubet. Sieh diesen Sohn, auf dessen Tugend du stolz warst, seine Pflichten vergessen und sich einem Verbrechen überlassen, dessen Abscheulichkeit ihm noch selbst fremd ist, und sage mir sodann, wie du dich trösten willst?

ROBERT. Dadurch, daß ich Stärke genug besitzen würde, ihn zu seiner Pflicht zu zwingen. Schärfe, Willhelm, wird die Leidenschaften einer hitzigen Jugend bald zu bändigen wissen. Noch mehr, Freund, dein Stillschweigen gegen Lucien machet dich wegen ihrer eigenen Verbrechen strafbar. Entdecke ihr das Hindernis, das diese Verbindung mit deinem Sohne unmöglich machet, und du wirst sodann nicht ein einzigesmal mehr zu seufzen nötig haben.

WILLHELM. Wie kann ich mein eigner Ankläger werden?

ROBERT. Ein bereutes Verbrechen höret auf, ein Verbrechen zu sein.

WILLHELM. Leerer Trost! Kann ich gegen Lucien sagen: Sehen Sie, Lucie, dieser alte Willhelm, der ein so eifriger Freund der Tugend zu sein scheint, der ihnen diese Tugend so oft vorprediget, ist ein Bösewicht. Er hat Sie durch seine Laster unglücklich gemachet. Sie können ihn in Zukunft nie ansehen, ohne über ihn zu erröten, so wie er keinen einzigen Blick auf Sie werfen kann, ohne in seinem Herzen tausend Martern zu fühlen.

ROBERT. Wähle zwischen zwei Übeln. Dich auf einen Augenblick zu erniedrigen oder Lucien unglücklich und zur Verbrecherin zu machen. Erlaube mir, daß mein Mund dir die Scham, in ihrer Gegenwart zu erröten, ersparen darf.

WILLHELM. Nein, Robert, sie darf das unglückliche Geheimnis aus keinem als meinem eigenen Munde erfahren. Sie darf nicht wissen, daß noch eine[234] einzige lebende Seele mehr ihre und meine Schande weiß. Sie besitzt Stolz, und ihr Stolz würde ihr ein Recht mehr geben, mich zu verachten. Ich will versuchen, ob ich mein Herz überzeugen kann, daß man sich nie schämen dürfe, ein Laster zu gestehen, das man sich nicht geschämet hat auszuüben.

Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 233-235.
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