Der erste Auftritt

[235] Amalie und Lucie.


LUCIE. Ja, Amalie, Betterton ist wirklich großmütig; aber seine Großmut erniedriget zugleich Lucien. Ihr Stolz hat mehr als einmal, Sie wissen es selbst, die Qual empfunden, diejenigen großmütig gegen sich zu sehen, gegen die sie undankbar gewesen ist.

AMALIE. Stören Sie doch die Freude Ihrer Amalie, Ihnen zuerst diese gute Nachricht gebracht zu haben, nicht durch Ihren Verdruß. Der arme Betterton! Er hat nie eine würdigere Handlung ausüben können, als daß er durch das Vermächtnis seiner Güter Ihnen noch den Besitz des einzigen Glücks gegeben hat, das Ihnen mangelte. Bedenken Sie, meine Lucie, wie vollkommen glücklich! Einen Überfluß an allen den Gütern, welche dem Pöbel nur den Schein und einem edlen Herzen den wahren Besitz einer Glückseligkeit geben! Von dem tugendhaften Sir Willhelm geliebt und von dem zärtlichen Karl angebetet! Sie allein würde Amalie beneiden, wenn sie wüßte, was Neid wäre; und doch seufzen Sie noch?

LUCIE. Ein mit sich unzufriedenes Herz auf dem höchsten Gipfel seiner Glückseligkeit, das da fühlt, daß es dieselbe nicht seiner Würdigkeit zu danken hat, was kann es mehr tun als seufzen?

AMALIE. Verbannen Sie doch endlich diese philosophische Melancholie. Wollen Sie Ihre neue Glückseligkeit nicht Ihrem Liebhaber entdecken? Doch er wird es bereits wissen. Sein getreuer Jakob, der es von der Person gehöret hat, die das Testament aufsetzen mußte, wird es ihm ebenso geschwind gesaget haben, als er es ihm selbst entdecket hat. Vielleicht hat er es auch bereits nebst der Einwilligung in die zärtlichste Liebe aus dem Munde seines Vaters selbst gehöret. Nur die Zärtlichkeit, seinem Sohne die Freude zu gönnen, seiner Geliebten die Großmut eines würdigen Freundes zu[235] hinterbringen, kann den alten Vater abgehalten haben, daß er es Ihnen nicht schon selbst hinterbracht hat. Aber Amalie ist weniger gütig gegen ihren Liebhaber gewesen. Sie hat ihre Lucie an ihm gerächet, indem sie ihm eine von seinen Freuden geraubet hat.

LUCIE. Bettertons großmütiges Geschenk ist mir nicht weiter angenehm, als insoweit es mir eine Hoffnung mehr zu Sir Willhelms Einwilligung gibt. Würde er wohl einem Mädchen, der er alle und jede Notwendigkeiten des Lebens geschenket hatte, dessen ganze Glückseligkeit das Werk seiner Hände war, auch noch seinen Sohn geschenket haben? Doch ach! dies war nicht das einzige, das ich zu fürchten habe?

AMALIE. Nichts haben Sie zu fürchten. Southwells und seines Vaters Zärtlichkeit und Liebe zeigen Ihnen lauter Hoffnung. Aber wissen Sie, meine liebe Freundin, was ich mit der Summe anfangen will, die Ihnen Betterton bei aller seiner Großmut entzogen und mir vermachet hat?

LUCIE. Was kann Amalie weiter damit anfangen als Handlungen unternehmen, die ihre große Seele zeigen?

AMALIE. Schmeichlerin! hören Sie zur Strafe, was ich tun will. Bei dem ersten Zeugen Ihrer Liebe muß ich Pate sein, und ihm will ich sodann dasjenige wiedergeben, was ich seiner Mutter schuldig bin.

LUCIE. Hüten Sie sich, meine Freundin. Sein Sie weniger großmütig. Lassen Sie Lucien einen Fehler an Ihnen finden. Sie möchte sonst versuchen, ob sie Amalien hassen könnte, um sich zu rächen, daß sie nicht ebenso erhaben als sie sein kann.

AMALIE. Nein! Lucie kann mich niemals hassen, sie würde es sonst der Fehler wegen tun, die sie alle Augenblicke an mir wahrnimmt.

LUCIE. Lassen Sie uns diesen Wettstreit vergessen. Er muß mir jederzeit nachteilig sein. Bedauern Sie mich. Mein Herz ist jetzund nicht fähig, etwas mehr als seine Schwachheit, seine Liebe zu empfinden. Es fürchtet töricht genug, Sir Karln alle Augenblicke zu verlieren. Ich zittre vor seiner Wankelmut ebensosehr als vor der Widersetzung seines Vaters gegen unsere Verbindung. Schon drei ganze Stunden ist es, daß ich ihn an meine Brust gedrücket habe.

AMALIE. Drei ganze Stunden! welche lange Ewigkeit für ein zärtliches Herz wie das Ihrige! Erlauben Sie mir, daß ich ihm den ersten Verweis für seine Nachlässigkeit geben darf. Warten Sie hier, ich will den mutwilligen[236] Verbrecher noch einmal herführen, Sie um Gnade zu bitten. Aber ich beschwöre Sie, Lucie, sein Sie grausam, recht grausam gegen ihn. Bedenken Sie es unterdessen, wie Sie es möglich machen wollen. Amalie geht ab.

LUCIE allein. Darf ich endlich frei Atem schöpfen? Bin ich von dieser beschwerlichen Freundin erlöst? Wie hasse ich, wie verabscheue ich sie! So edel, so weit erhaben über mich! Und ich so klein, so kriechend gegen sie! Ungerechter Himmel, war es nicht genug, daß du mich durch meine Leiden gestraft hast? Warum quälst du mich noch jetzt durch deine Wohltaten? Ich verfluche sie selbst in dem Augenblicke, da mein törichtes Herz nach ihnen seufzet. Stoß mich wieder in mein erstes Elend zurück. Laß mich wieder von Karl Southwelln verlassen und der Schande und der Verachtung meiner Freunde nahe sein. Damals besaß ich wenigstens noch den elenden Trost, daß ich jemanden mehr als mich anklagen konnte. Jetzt, da ich alle um mich herum tugendhaft erblicke, habe ich niemand weiter anzuklagen als mich. Betterton ist großmütig, Sir Willhelm der gütigste Vater, Karl der zärtlichste Liebhaber und Amalie die liebenswürdigste Freundin gegen mich. Und wer ist Lucie gegen sie alle? Das verächtlichste Geschöpfe, welches gelebet hat. Eine Elende voll Stolz ohne Ehre, eine Undankbare, eine Heuchlerin, die sich unter der Maske der Tugend verbergen muß, um nicht der Abscheu ihrer bessern Freunde zu werden. Barbarischer Zwang! Kann ich es ausstehen, andere neben mir tugendhaft zu sehen, ohne es selbst zu sein? Daß sie doch alle so lasterhaft wären als ich. Oder daß mein Herz noch dreimal böser wäre, als es wirklich ist, damit es durch seine Laster eine Tugend quälen möchte, die ihm alle Augenblicke Vorwürfe machet! Hoffe, Herz, man wird nicht auf einmal der große Bösewicht, aber man wird es nach und nach. Still! Es kömmt jemand. Zurück, Herz, unter die Maske deiner alten Verstellung. Niemand darf Luciens Häßlichkeit kennen, außer sie selbst. Doch nein! Es ist Betty. Das Laster errötet niemals vor seinesgleichen.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 235-237.
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