Der andere Auftritt

[237] Lucie. Betty.


BETTY. Hier, Fräulein, lesen Sie diesen Brief. Er ist von Sir Karln. Vielleicht können Sie noch einmal Ihre Begierde, zu seufzen, befriedigen.

LUCIE. Wie, sind meine Wünsche schon erhört? Grausamer Himmel![237] Ja, ich habe niemals vergeblich geflehet, wenn ich dich um mein Unglück gebeten habe. Karl ist untreu. Ich werde denn, wie ich gewünschet habe, wieder elend sein. Ich werde jemanden mehr verfluchen können als mich selbst. Aber wieviel wird es nicht meinem Herzen kosten! Nimm den unseligen Brief zurücke. Ich fühle bereits alles. Sein Inhalt kann meinem Grame nichts hinzusetzen.

BETTY. Und ebendeswegen lesen Sie ihn, oder erlauben Sie mir, daß ich ihn lesen darf.

LUCIE. Lies ihn dann. Deine grausame Seele würde eine Freude verlieren, wenn sie mir eine von meinen Qualen verschweigen sollte.

BETTY. Urteilen Sie, ob Sie gerecht sind. Betty liest. »Die Rache des Himmels verfolget meine Treulosigkeit gegen Sie. Mein Vater widersetzet sich auf das heftigste unserer Vermählung. Meine Liebe triumphieret über meinen Gehorsam. Es ist alles zu einem Mittel bereit, welches uns auch wider seinen Willen glücklich machen soll. Begeben Sie sich sogleich auf dasjenige einsame Zimmer, das so oft der verschwiegne Zeuge unserer Glückseligkeit gewesen ist. Amalie weiß von allem nichts. Lassen Sie sich weder von ihr noch von jemand sonst sehen, wenn es möglich ist. Eilen Sie. Jede verzögerte Minute kann ein unwiederbringlicher Verlust sein für ihren zärtlichsten Karl Southwell.«

LUCIE. Sind meine Ahndungen vergeblich gewesen? Sir Willhelm widersetzet sich unserer Vermählung. Was will aus mir werden? Werde ich nicht –

BETTY. Keine Klagen! Schieben Sie dieselbe eine einzige Stunde noch auf. Hernach klagen und weinen Sie sich satt. Eilen Sie, wenn Sie nicht die grausamste Feindin von sich selbst sein wollen.

LUCIE. Ungestüme Betty, sage mir wenigstens –

BETTY. Nichts sage ich Ihnen. Sind Sie noch hier? Ewige Verzögerung! Mich deucht schon, als ob ich jemand kommen hörte.

LUCIE. Herz! zu was für neuen Unruhen wirst du eilen? O mit wieviel Mühe erkaufen wir unsere Laster und die Strafen derselben; da uns oft die strengste Tugend nicht die Hälfte dieser Mühe würde gekostet haben! Geht ab.

BETTY. Mein Fräulein muß alle ihre Seufzer mit einer Moral beschließen. Dies ist die Gewohnheit aller der kleinen Seelen, die sich noch nicht von den eingepflanzten Vorurteilen der Kindheit losgerissen haben. Aber wir großen Geister, die wir über alle diese engen Begriffe weg sind,[238] wir wissen weiser, daß alle Mühe um die Tugend unnütze verschwendet ist, außer diejenige nicht, welche dem Laster durch die äußerliche Miene der Tugend die Freiheit erwirbt, desto sicherer lasterhaft sein zu können. Doch still, ich höre jemanden. Es ist der Gang unsers alten Herrns. Einen Augenblick eher wäre er zu der allerunbequemsten Zeit in meinem Leben gekommen. Weg, Betty, mit deiner verwegenen Miene. Zurück unter das Joch der glücklichen Heuchelei, die dir schon so viele erwünschte Stunden in diesem Hause gegeben hat. Zieh dein Gesicht in seine gewöhnlichen Falten. Er ist da, seufze.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 237-239.
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