Der sechste Auftritt

[258] Lucie und Betty.


LUCIE. Tyranne! gib mir die Unschuld wieder, die du mir geraubet hast, gib sie mir selbst, so wie sie von dem Laster der Wollust geschändet war, wieder. Gib mir wenigstens die Unempfindlichkeit, der herannahenden Rache frech und unerrötend zu trotzen. Schröckliche Minuten! Können die Strafen der Höllen empfindlicher sein? Ich empfinde sie voraus. Und ich allein fühle[258] sie! Und du, gegen die ich die Tugend selbst bin, fühlest sie nicht? Ist der Himmel gerecht? Nimmermehr ist er es!

BETTY. Sind Sie fertig, Fräulein? Leben Sie wohl. Ich will Ihre Undankbarkeit gegen mich nicht noch dadurch vermehren, daß ich Sie durch meine Gegenwart zu neuen Verwünschungen aufmuntere.

LUCIE. Ja, sei dem Teufel in allen Stücken ähnlich. Verlaß mich in dem entsetzlichsten Zustande, in den du mich selbst gestürzet hast. Kann wohl deine harte Seele eine Art von Mitleiden jemals zu empfinden fähig sein. Vollende dein unseliges Werk und lehre mich noch ein größeres Laster, wenn es möglich ist, die Martern zu bändigen, die meine Seele ängstigen. So viele Bösewichte leben und sind glücklich. Und ich allein sollte mir zur Qual lasterhaft geworden sein?

BETTY. Warum vergessen Sie diese kindische Begriffe von Laster und Tugend nicht? Was ist Laster und Tugend. Erfindungen des Eigennutzes und des Aberglaubens. Wo ist Ihr Stolz? Wollen Sie ewig verächtlich von sich sprechen? Was haben Sie denn nun Abscheuliches getan? Einen alten Mann zur Ruhe gebracht, der vielleicht der Welt ebenso müde war als diese Welt seiner, der Sie auf das grausamste beleidigte, ohne dessen Tod Ihre Schande, die ärgste, die Ihnen widerfahren konnte, unvermeidlich war?

LUCIE. Der mich aber auch wie ein Vater seine Tochter liebete, der in seinen letzten Augenblicken lauter Liebe und Zärtlichkeit war. Ach diese fürchterliche Szene! Nie wird sie aus meinen Gedanken kommen. O hättest du mein Herz in dem schrecklichen Augenblicke gesehen, da er mich durch alle seine Zärtlichkeiten marterte, da er sich auf meinen Arm stützte und mitten unter den unaussprechlichsten Martern, die ich ihm verursachete, in den Umarmungen seiner Tochter, seiner Mörderin, hätte er sagen sollen, eine Erleichterung seiner Qual finden wollte. Betty, hättest du mein Herz sehen können, du hättest eine Zähre verloren, und wenn es die erste in deinem ganzen Leben gewesen wäre. Stelle dir ihn in seinem Kabinett vor, wie er aus meinen zitternden Armen auf seine schon wankenden Knie sinkt, wie er mit tränendem Auge und mit einer Inbrunst voll Liebe und Zärtlichkeit betet: »Gott! segne meinen Sohn, segne meine Tochter! Waren sie strafbar, so vergib ihnen und laß ihre Verbrechen die meinigen sein.« Warum hieß er mich doch seine Tochter? Mußte er noch durch diesen Namen mein Laster und meine Schmerzen vermehren? Er verlor die Sprache, aber sein Auge ließ mich desto stärker die Sprache väterlicher Empfindungen entdecken. Bei[259] jeder Zückung, die er fühlete, warf er einen Blick auf mich, der mich um Erbarmung anzuflehen schien und mich eine ganze Hölle von Martern fühlen ließ. Robert und seine Tochter haben mich endlich von diesem für mich so abscheulichen Auftritte befreiet. Sie hielten meine Verzweiflung für die Wehmut der Zärtlichkeit. Sie nahmen mich aus seinen mich umschlingenden Armen, damit ich, wie sie sageten, in der Einsamkeit Trost und Erleichterung meiner Schmerzen suchen könnte. Trost? Erleichterung? welche Einsamkeit? welche ganze Welt? welche künftige Ewigkeit selbst – Ewigkeit, welcher Gedanke! kann sie mir geben?

BETTY. Vergessen Sie Sir Karln nicht, Fräulein. Ich gebe Ihnen mein Wort. Er wird Ihnen diesen Trost, diese Erleichterung oder wie es Ihre Tugend zu nennen beliebet, mitzuteilen fähig sein. Erinnern Sie sich an eine gewisse Gelegenheit, da Ihre arme Betty ebensoviel Verwünschungen als jetzt ausstehen mußte, und da Sie alle Ihre Seufzer ebenso geschwind in seinen Armen vergaßen, als Sie in diesen Armen die jetzigen vergessen werden.

LUCIE. Ja, erinnere mich an alle meine Niederträchtigkeiten. Sie sind das Werk deiner Hände. Du hast recht, auf sie stolz zu sein. Der elende Bösewicht! daß ich weder ihn noch dich, sein unseliges Werkzeug, gesehen hätte!

BETTY. Sein Sie doch barmherziger. Der arme Karl! Er ist diese Grausamkeit nicht von Ihnen gewohnt.

LUCIE. Spotte nicht über mich, unverschämter Teufel, daß du selbst mich elend gemachet hast. Laß mich deine Rache ganz fühlen, o Himmel! Sie wäre unvollkommen, wenn ich nicht der Spott und die Verachtung selbst derjenigen würde, die mich lasterhaft gemachet haben. Führe ihn her, ihn, dem ich Glück, Tugend und Seligkeit selbst aufgeopfert habe, und laß mich zur grausamsten Strafe für meine Verbrechen Verachtung und Haß in seinen Blicken lesen. Solltest du zulassen, daß er die Mörderin seines Vaters als seine Gemahlin umarmen dürfte? Nein! nein! dann bist du gerecht, wenn du mich strafen sollst. Höre die Rache, die über mich schreiet! Ja, ein unwiderstehliches Gefühl voll Zittern und Angst saget mir, daß du sie hörest. Karl selbst wird aus meiner Verzweiflung entdecken, wer ich bin. Selbst der Schrecken, mit dem mich das Bild seines Vaters aus den gräßlichsten Träumen an seiner Seite erwecken wird, wird es ihn lehren. Er wird meine Qual sein, wie ich die seinige sein werde. Und dann, wenn wir uns gemeinschaftlich[260] anklagen, wenn wir gemeinschaftlich verzweifeln werden, was für größere Qualen, o Ewigkeit, wirst du sodann noch für uns übrig haben können?

BETTY. Lassen Sie Ihr Herz ausstürmen. Ich kenne es. Je stärker es brauset, je ruhiger wird es hernach. Aber erlauben Sie mir auch hernach die kleine Rache, daß ich Sie mitten unter Ihren künftigen Freuden an Ihre ehemalige Verzweiflung erinnere. Zu den Zeiten der Helden würde Ihre stürmische Tugend eine rechte bewegliche Rolle gespielet haben.

LUCIE. So weit ist mein Stolz heruntergesetzet, daß ich dich um ein Laster, um diese Gleichgültigkeit mitten unter den gröbsten Verbrechen, die ich nicht hoffen darf, beneiden muß. Wer kömmt? Wer weiß, sind meine Verbrechen nicht schon entdecket? Verbirg mich, Betty, verbirg mich vor der Rache, die mich vielleicht schon verfolget. Fürchterliches Gewissen! Welche Angst!

BETTY. Sehen Sie ein Wunderwerk, sehen Sie Sir Karln.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 258-261.
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