Überblick meines Lebens
(1819)

Hundertmal schon ist das Leben einer Wanderschaft, einer Pilgerfahrt verglichen, und dieser Vergleich mit poetischerem oder unpoetischerem Sinn ausgeführt worden. Ohne ihn in seine kleinen Teile zu verfolgen, möchte ich jetzt nur bei diesem einzigen Berührungspunkt stehen bleiben, daß der Mensch wie der Wanderer gern manchmal, bald aus Müdigkeit, bald aus Besonnenheit und stillem Vergnügen, auf seinem Wege inne halten, rückwärts blicken, die durchlaufene Bahn noch einmal in seinen Gedanken betrachten und überdenken mag, was er bisher erfahren, geleistet, gelitten, genossen, und wie es in und um ihn stehe, in dem Augenblick, wo die vergangene Zeit lebendig vor das Auge seines Geistes tritt, und er eine Art von Rekapitulation derselben zu halten im Begriffe steht.

Gar wohl scheint ein solcher vergleichender Überblick sich dann zu schicken, wenn eine bedeutende Zeitperiode eben abgelaufen und ein ernstes Stufenjahr erstiegen ist. So eines dünkt mich nun vor vielen das fünfzigste Lebensjahr zu sein, das ja auch in den Büchern Moses schon als Hall- oder Jubeljahr zu einem solchen Aufenthaltspunkte und zur Rückkehr aller Dinge in ihre alten Verhältnisse bestimmt war. Mit innigem Vergnügen blickt die Matrone zurück auf die Zeit, wo sie als Mädchen, als Jungfrau, als junges Weib durch Gottes Segen sich so manches Guten erfreut, feiert mit Wehmut die Erinnerung an so viele vorausgegangene oder entfernte Lieben, und dankt der Vorsicht auch für die trüben Stunden, welche das größtenteils[395] heitere Gemälde ihres Lebens mehr erhoben als verdunkelten.

Was sie als Mädchen, als Tochter, als Gattin und Mutter gewesen und erfahren, kann eigentlich nur für den nächsten Kreis ihrer Freunde und Angehörigen Wert haben; aber wie sich ihr Geist ausgebildet, wie sie das geworden, als was sie dem lesenden Publikum bekannt ist, könnte für die Welt doch einiges Interesse haben, und so mögen diese Blätter, die in etwas veränderter Gestalt vor ein paar Jahren geschrieben, und in einer größeren Sammlung von Lebensbeschreibungen deutscher Schriftstellerinnen (Morgenblatt im Februar 1821) zu erscheinen bestimmt waren, hier auch in der, wahrscheinlich letzten Ausgabe ihrer Schriften, einen geziemenden Platz finden.


*


Der Mensch ist zur Geselligkeit geboren. Nur im Umgange und Verkehr mit andern Menschen kann er jenen Grad von Ausbildung erhalten, zu welchem ihn die Vorsicht bestimmt, und den zu erreichen, sie ihm nebst andern Fähigkeiten, welche ihn über das Tier erheben, auch das Organ der Sprache gegeben hat, worin vielleicht der Grund seiner hohen Perfektibilität liegt. Also nur unter Menschen und durch Menschen wird jeder, was er werden kann und soll, und es ist eine Betrachtung, die uns Erstaunen und Wehmut einflößen könnte, wenn wir bei scharfem Nachdenken über uns selbst, die Macht des guten oder bösen Beispiels, des Unterrichts, der geselligen Verhältnisse usw., beherzigen wollten, die von unserer ersten Kindheit an auf uns gewirkt, und das Wesen aus uns gemacht haben, welches wir nun zu unserer Beruhigung oder – Beschämung geworden sind.[396]

So hat sich auch an der Bildung meines Gemütes Erziehung, Beispiel, Umgang allmächtig erwiesen, und ich mag wohl sagen, daß ich den größten Teil dessen, was ich bin, die Richtung meines Geistes, was ich gelernt, geleistet, einer überaus sorgfältigen Erziehung, dem Beispiel verehrungswürdiger Eltern und dem Umgange mit schätzbaren, gebildeten Menschen verdanke, denen unser Haus von meiner zartesten Kindheit an zum Sammelplatz gedient hat.

Mein mütterlicher Großvater war Protestant und Offizier bei einem österreichischen Regiment, und hatte seine einzige Tochter, nach dem Verluste seiner Frau, mit beispielloser Geduld und Liebe bis in ihr fünftes Jahr erzogen. Er starb in Wien, wo sein Regiment sich damals befand, und das ganz verwaiste, im fremden Lande verlassene Kind kam durch eine sonderbare Fügung Gottes in die Hände der großen Kaiserin Maria Theresia, wurde von ihr angenommen und am Hofe katholisch und sorgfältig zu ihrem persönlichen Dienste erzogen. Diesen trat meine Mutter auch bereits in ihrem dreizehnten Jahre an und versah ihn mit großer Pünktlichkeit und Einsicht, sowohl als Vorleserin, als in Rücksicht des Putztisches, der ihrer Sorge größtenteils anvertraut war, zur Zufriedenheit ihrer erlauchten Gebieterin durch viele Jahre, bis mein Vater ihr seine Hand bot, der sich ihr weniger durch eine schimmernde Außenseite, als durch eine unendliche Herzensgüte, gründlichen Verstand und ausgebreitete Geschäftskenntnisse schätzens- und liebenswert machte. Diese Verbindung brachte auch ihn seiner Monarchin näher, seine Verdienste wurden von ihr erkannt, sie beehrte ihn mit ihrem vorzüglichen Vertrauen und erhob ihn zur Würde eines Hofrats und geheimen Referendarius,[397] welcher damals, vor mehr als vierzig Jahren, von bedeutendem Einflusse war.

Dieser Posten, sein eigenes Vermögen, seine Achtung für höhere Bildung, sein Geschmack an Musik und geselliger Unterhaltung, endlich meiner Mutter lebhafter, nach Kenntnissen dürstender Geist, sammelte bald gebildete Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen um meine Eltern. Ihre Zirkel waren glänzend, Höhere und Gleiche, Einheimische und Fremde drängten sich um sie. Jeder fand nach seiner Art in vielfachen Bekanntschaften, in geselligen Unterhaltungen, im Zusammentreffen mit bedeutenden Menschen seine Rechnung. Die meisten einheimischen, viele fremde durchreisende Gelehrte, unter denen ich vorzüglich den Freiherrn von Nicolay aus Petersburg und den sehr liebenswürdigen Georg Forster – den Weltumsegler – nennen muß, weil diese meinen Eltern durch Freundschaft näher standen, besuchten unser Haus, wozu der Umstand später noch beitrug, daß mein Vater zweimal das Referat über das Schul- und Studienwesen führte, und daher in offizielle Berührungen mit mehreren Professoren und Literatoren kam.

Ich wurde im Herbste des Jahres 1769 geboren. Meine Kindheit und erste Jugend verfloß unter den gedachten Umgebungen, neben einem Bruder, der um drei Jahre jünger war als ich, nachdem drei andere Geschwister, vor und nach uns geboren, ins Grab gesunken waren. Fast die meisten berühmten Männer aus jener Periode des aufsprossenden Geistes in Österreich, geweckt durch den Funken, der aus Kaiser Josefs Genius in dasselbe fiel, kann ich als sehr fleißige Besucher oder wenigstens als bessere Bekannte unseres Hauses nennen. Sonnenfels, dem sein Vaterland unendlich mehr verpflichtet[398] ist, als es vielleicht erkennt, Denis, Abbate Metastasio, Mastalier, Haschka, Alxinger, Abbate Maffei, dessen mathematisches Genie größtenteils die österreichische Artillerie auf den bedeutenden Punkt erhoben hat, den sie jetzt behauptet, Freiherr von Jacquin Vater und Sohn die Professoren Well, Wolstein, Eckhel, Dr. Stoll, Ratschky, Leon, Blumauer, Hofstäter, die Freiherren von Sperges und van Swieten gehörten unter die öfteren oder seltneren Erscheinungen im Abendzirkel oder am Tische meiner Eltern. Heiteres geistreiches Gespräch, literarische und politische Neuigkeiten, alles, was im Gebiete der Künste, besonders der Musik, wozu mein Vater mich vorzüglich anhielt, die aber bei mir nie zur Liebhaberei wurde, Neues erschien, ward bei uns gezeigt, gelesen, oder doch besprochen. Und wenn wir gleich als Kinder und heranwachsende junge Leute, zur Bescheidenheit erzogen, uns nie einfallen ließen, mit zu reden, so hörten wir doch zu, wenn Kluge Kluges sprachen, und mancher Samen fiel in die jungen Gemüter.

Als mein Bruder beim Hofmeister Latein zu lernen anfing, hießen meine Eltern mich auch diese Stunden besuchen, und besonders suchte Herr Haschka, der damals in unserm Hause wohnte, mir Liebe für diese Sprache einzuflößen. Sie zog mich auch bald an, und ich fing an, ihre Schönheit und Kraft zu ahnen. Nun lasen Haschka und Alxinger die Klassiker mit sorgfältiger Wahl und belehrenden Bemerkungen mit mir, sie führten mich, da ich schon früher einige kindische Versuche im Dichten gemacht hatte, in die Grundsätze der schönen Wissenschaften ein, sie lehrten mich deutsche und ausländische Dichter begreifen, wie ich denn überhaupt diesen treuen Freunden meiner Eltern,[399] und Herrn von Leon, jetzt Kustos an der k.k. Bibliothek, den größten Teil meiner Anleitung zur Ästhetik verdanke. In der Religion, Geschichte und Naturgeschichte war der verstorbene Herr Bischof von Linz, Josef Gall, einer unserer verdientesten Geistlichen, noch als Katechet an der Normalschule mein Lehrer, und auch die übrigen Freunde, wie Doktor Stoll, Abbate Maffei, Professor Mastalier gaben sich gütig mit der heranwachsenden Tochter ihrer Freunde ab und pflanzten manchen Keim in den empfänglichen Grund meines Gemüts.

Unter allem, was ich zu lesen bekam, zog mich nichts so sehr an, als geistliche und Hirtengedichte. Geßners Idyllen, sein Tod Abels, Miltons verlornes Paradies, die Noachide und später die Messiade wirkten mit großer Gewalt auf mich. Die letzte habe ich seit meinem zwanzigsten Jahre fast alljährlich durchgelesen; denn von allen Schriftstellern aus der frühern Periode unserer Literatur haben Klopstock und Herder den tiefsten Eindruck auf mich gemacht, und, wenn ich so sagen darf, die Richtung meines Geistes bestimmt.

Mit Vergnügen erinnere ich mich aber noch jetzt, nach mehr als dreißig Jahren, lebhaft des Abends, wo zuerst bei uns eine Idylle von Vossens Louise, das Fest im Walde, in der ersten, aber vielleicht frischeren Jugendgestalt, wie sie dem Geiste des Verfassers entsproßt war, vorgelesen ward. Das war meine Welt; dies heitere, in sich selbst beruhende, still abgeschlossene, von Armut wie von Überfluß entfernte und durch religiösen Sinn geheiligte Leben einer frommen Familie auf dem Lande! Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen (ein zu bald, über manchem weniger Guten vergessener Roman) bildete diese Ideen weiter in mir[400] aus und die Frau eines Landpfarrers, wie Pastor Groß in jenem Roman oder wie Arnold Ludwig Blum in der Louise, zu werden, war das Ideal menschlicher Glückseligkeit für mich, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahr alt war, und scheint mir noch jetzt ein höchst wünschenswerter Zustand.

Unterdessen ging aber auch der Unterricht in ernsteren Gegenständen vorwärts. Nebst dem Latein lernte ich die lebenden Sprachen, Französisch, Italienisch und Englisch, um ihre besten Schriftsteller lesen und genießen zu können. Zur Belustigung und zur Übung eines trefflichen Gedächtnisses, das die Natur mir gegeben, lernte ich jeden Tag etwas auswendig, und noch jetzt könnte ich viele aus Gellerts Fabeln und geistlichen Liedern, sowie aus Bürgers und Stolbergs Romanzen hersagen, welche ich mit meinem Bruder, als ein ziemlich wildes Mädchen, dem es an weiblichen Spielgefährten gebrach, bald rezitierte, bald mimisch darstellte.

Aber die Jahre der Kindheit und ersten Jugend waren vorüber. Ich trat in die Welt und in den Kreis weiblicher Pflichten ein. Meine Mutter, die über der Bildung des Geistes die viel nötigere zur Häuslichkeit nicht vergessen hatte, hielt mich streng hierzu an, lehrte mich diese lieben und als die erste und wichtigste Bestimmung des Weibes betrachten, und bewahrte auf diese Weise meinen Charakter vor mancher falschen Richtung. Doch gönnte sie es mir gern, mich in Mußestunden mit Lesen, Dichten und Musik zu beschäftigen. Diese letztere wurde in unserm Hause, nach dem Wunsche meines Vaters, viel getrieben, der große Mozart, obwohl nicht mein Lehrmeister, schenkte mir manche Stunde, ich hatte oft Gelegenheit, ihn spielen zu hören[401] und mich nach seiner Anweisung zu vervollkommnen. Aber die größte Lust gewährte es mir, mich im Reiche der Phantasie zu ergehen, und Idyllen nach den Vorbildern, die ich vor mir hatte, erst im Geßnerschen, dann im Vossischen Ton zu versuchen. Mitunter dichtete ich auch Lieder, Balladen, übersetzte aus fremden Sprachen, und wurde endlich durch meine Liebe zu ländlicher Stille und meine Aufmerksamkeit auf die Pflanzenwelt und die Natur um mich her dahin geleitet, eine Art Verhältnis zwischen der physischen und moralischen Welt, und gemeinschaftliche Gesetze, die in beiden walteten, zu bemerken und in Betrachtungen auszudrücken. So entstanden die Gleichnisse, welche ich, aber bloß im Manuskript, meiner liebsten und ältesten Jugendfreundin, Fräulein Josefa von Ravenet, zueignete, mit der mich seit mehr als dreißig Jahren ein festes Band der Freundschaft, so wie eine völlig gleiche Gesinnung verbindet.

Mein Bruder, einer der besten Menschen, die ich je gekannt, ein warmer Freund alles Guten und Wahren, hatte sich um diese Zeit (in den Jahren 1791–1792) mit einigen Jünglingen seines Alters, mit denen er in Geschäfts- und geselligen Beziehungen stand, und wovon die meisten, welche nicht ein allzufrüher Tod, wie den guten Bruder selbst, hingerissen, jetzt bedeutende Staatsämter bekleiden, zu einer literarischen Gesellschaft verbunden, deren Zweck es war, sich für ihre künftige Bestimmung als Staatsbeamte und überhaupt zu veredelten Menschen auszubilden. Sie schrieben kleine Aufsätze über philosophische oder politische Gegenstände, lasen sie sich gegenseitig vor, beurteilten sie schriftlich, und verbanden so in ihren freundschaftlichen Zusammenkünften heitern Genuß mit wissenschaftlichen[402] Zwecken. Mich reizte diese Beschäftigung; ohne meinen Namen zu unterzeichnen, ohne persönlich in jenen Gesellschaften zu erscheinen, übergab ich meinem Bruder auch Aufsätze über jene aufgegebenen Gegenstände, die nicht außer meiner Sphäre lagen, und unterwarf mich der strengen Kritik der Mitglieder. Dieser Übung im richtigen Auffassen, Beleuchten und Entwickeln der Begriffe, in grammatikalischer Strenge der Sprache und zierlicher Reinheit des Stils verdanke ich einen großen Teil meiner schriftstellerischen Ausbildung; aber ich verdankte diesem Vereine edler, junger Männer noch mehr, die nähere Bekanntschaft mit meinem Gemahl. Auch er war einer der Jugendfreunde meines Bruders und ein Mitglied jener Gesellschaft. Ich lernte in seinen Aufsätzen seinen richtigen Verstand, sein feines Gefühl, seine tiefe Glut für alles Gute, für das Wohl seines Vaterlandes und der Menschheit kennen und schätzen. Unsere Herzen begegneten sich in mancher gleichen Empfindung, in mancher übereinstimmenden Ansicht auf eine überraschende Art in unsern Aufsätzen. Wir fingen an, uns zu lieben, meinen Eltern war diese werdende Neigung kein Geheimnis, sie sahen sie wachsen und segneten sie, und ich ward im Mai des Jahres 1796 sein glückliches, noch jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, von ihm zärtlich geliebtes Weib. Anderthalb Jahre darauf erfreute uns die Geburt eines wohlgebildeten Mädchens, die aber unser einziges Kind blieb. Einige Monate nach ihrer Erscheinung verehelichte sich mein Bruder mit einer meiner Jugendgespielinnen, und kurz darauf starb unser guter Vater, nachdem er mehrere Monate gekränkelt hatte, im Junius 1798. Nun blieben wir zwei jungen Paare bei meiner Mutter, und machten nur eine Haushaltung[403] aus, in einem bequemen Hause einer anmutigen Vorstadt, das in seinem geräumigen Garten und einer der ländlichen sich nähernden Lebensweise mir eine entfernte Verwirklichung meines Jugendwunsches bot, und das wir noch bewohnen, da meines Mannes Geschäfte, als Regierungsrat, ihm nicht erlauben, den Sommer ganz auf dem Lande zuzubringen.

Nicht im Äußern meiner Verhältnisse, aber in meinem Leben als Dichterin begann nach meiner Verheiratung eine neue Periode. Mein Mann hatte so viele Freude an meinen kleinen Versuchen, daß er mich überredete, die Gleichnisse, welche er unter meinen Papieren gefunden und mit Interesse gelesen hatte, zu überarbeiten und herauszugeben, weil er dafür hielt, daß dies Buch, besonders jungen Personen meines Geschlechtes, nützlich werden könnte. Ich erschrak vor diesem Gedanken. Außer einigen Kleinigkeiten hier und da in Almanachen war nie etwas von mir gedruckt erschienen, und diese hatten nur geringe Ansprüche gemacht. Nun aber sollte ich mit einer gewissen Anmaßung auftreten, ein eignes Bändchen unter meinem Namen erscheinen lassen, mich in die Reihe der Autoren stellen! Es schien mir unmöglich; und nur nach langer Prüfung, und nachdem ich das Manuskript dem Urteil einiger würdigen Gelehrten und vertrauten Freunde unterworfen und ihre aufmunternde Beistimmung erhalten hatte, erschien es zuerst im Jahre 1800. Es ward besser aufgenommen, als ich gedacht hatte. Klopstock selbst, mit welchem meine Mutter, so wie mit Lavater, früher in einem Briefwechsel gestanden, der nur ihrer schwachen Augen willen aufgegeben wurde, schrieb nach langer Unterbrechung über diese Gleichnisse einen sehr freundschaftlichen Brief an sie, und freute[404] sich dieser Erscheinung. Ebenso erhielt ich einige Jahre später vom Freiherrn von Nicolay sehr ehrenvolle Briefe und das Geschenk eines seiner Werke, da er sich mit Vergnügen bei Erscheinung meiner Arbeiten der Frau erinnerte, welche er während seiner Anwesenheit in Wien 1782 als Kind oft gesehen hatte.

Dieser günstige Erfolg erweckte in mir die Lust, mich an etwas anderem zu versuchen und einen kleinen Roman zu schreiben. Ein Traum (wie denn überhaupt viele meiner Erzählungen ihren Ursprung aus irgend einer kleinen Veranlassung, Anekdote – Traum – Bild – herleiten) gab mir die Idee zum Olivier, der zuerst aus Scheu in einem Almanach unter fremdem Namen erschien und unter dieser Hülle in demselben Blatte arg mitgenommen wurde, in welchem er zwei Jahre darauf, als er mit meinem Namen einzeln abgedruckt wurde, viel Lob erhielt. Ich führe dies nur beiher an, um zu zeigen, was ich mit Grund von jeher von Rezensionen, wie sie gewöhnlich sind, hielt, und zu halten Ursache hatte, obwohl ich für meine Person mich nicht über diese Herren zu beklagen habe, die größtenteils sehr artig mit mir verfuhren.

Nach einem größeren Plan, aus heitern und trüben Erinnerungen meiner Jugend, aus manchen Charakterzügen und Gestalten, welche mir vorgekommen waren, mit jener Abänderung, welche die poetische Idealisierung zur Pflicht macht, entstand im Jahre 1803 Leonore. Ihr folgte, weil mein Mann es wünschte, und weil seine Freude an meinen Arbeiten mich, hauptsächlich dazu antrieb, bald ein Bändchen der Idyllen, die ich meistens lange vor meiner Verheiratung gedichtet. Bald darauf erschien Ruth, die ich in einem sehr angenehm zugebrachten Winter zugleich mit Herrn Karl[405] Streckfuß (bekannt durch frühere Werke, und jetzt durch seine meisterhafte Übersetzung des Ariost), der damals in unserm Kreise lebte und eine Zierde desselben war, und gleichsam zur Wette mit ihm dichtete.

Um diese Zeit, im Jahre 1804, verlor ich meinen edlen Bruder nach einer langen, sehr schmerzhaften Krankheit, nachdem auch ihm ein paar Jahre früher seine sehr geliebte Frau der Tod entrissen und die Wunden, welche jener Verlust schlug, nie ganz geheilt worden waren.

Der Name, welchen mir jene Arbeiten verschafften, und die Neigung meiner Mutter, welche auch die meinige war, gebildete Menschen um uns zu versammeln, hatten mittlerweile einen neuen Kreis sehr schätzbarer Männer um uns gezogen. Baron von Hormayr, Hofrat von Collin und sein Bruder, Regierungsrat von Ridler, Herr Direktor Vierthaler, Freiherr von Türkheim, Hofrat von Hammer, Direktor Füger, Herr Streckfuß, dessen ich schon erwähnte, und andere, sowohl hiesige, als fremde Gelehrte, oder sonst sehr gebildete Menschen schlossen sich bald durch gesellige, oder auch freundschaftliche Bande an uns. Baron von Hormayr führte mich in das, von mir bisher nicht genug beachtete Gebiet der Geschichte ein, er lehrte mich mein Vaterland mit ganz andern Blicken betrachten, er veranlaßte mich, sowie mehrere seiner Freunde, uns vorzüglich mit der Geschichte Österreichs zu beschäftigen und die Gegenstände unserer Arbeiten aus derselben zu wählen. So entstanden meine meisten Romanzen und manche Erzählungen, und so wurzelte auch die Liebe zu meinem Geburtslande, dessen schönste Epoche unter Maria Theresia und Josef II. mit der goldnen Zeit meiner Jugend zusammenfiel, und zu[406] dem Fürstenhause, dessen hohe, schöne Gestalten in ihrer herablassenden Milde mir aus früher Kindheit vorschwebten, wo ich mit meiner Mutter oft nach Hofe gekommen war, tief in meiner Seele.

Noch während der Lebzeit meines Bruders, und oft an seinem Schmerzenslager, um ihn zu zerstreuen, hatte ich Gibbons Geschichte vom Verfall des römischen Reiches gelesen, und war von den kalten Ansichten, den schneidenden Urteilen des sonst sehr geistreichen Verfassers über unsere christliche Religion tief verletzt worden. Der Wunsch, eine Geschichte zu erfinden, in welcher durch die Anordnung der Begebenheiten und die Richtung des ganzen die Wahrheit ans Licht gestellt würde, welche eine unparteiische Betrachtung der Geschichte uns lehrt, daß nämlich das Christentum höchst wohltätig und beglückend auf die Veredlung der Menschheit gewirkt hat, gab die Veranlassung zum Agathokles. Ich arbeitete über zwei Jahre daran und er erschien 1808.

Das folgende Jahr 1809 war zu stürmisch für mein Vaterland, und daher zu schmerzlich für mich, als daß es irgend etwas von Bedeutung hätte in mir hervorbringen sollen. Aber im Winter 1810, nachdem jene Unglücksstürme vertobt hatten und wir den traurigen Zustand unsers Vaterlandes mit Wehmut betrachten konnten, regte jene allgemeine elegische Stimmung auch mich an, und ich schrieb die Grafen von Hohenberg, deren Elemente aus der Geschichte, den Gegenden und Sagen Österreichs zusammengesetzt sind, und die die Ansichten jener Zeit und ihre düstern Schatten durch den Ton, der in ihnen herrscht, beurkunden.

Schon lange hatte mein Mann gewünscht, daß ich einmal etwas Dramatisches zu schreiben versuchen[407] sollte. Mir schien diese Form die schwierigste; dennoch überwand der Wunsch, ihm Freude zu machen, meine Furcht, und ich arbeitete fast ein Jahr lang an dem Trauerspiel Germanicus, dessen Fehler ich jetzt sehr wohl einsehe und weiß, was ihm gebricht, um theatralischen Wert zu haben. Mit der größten Vorsicht und unter dem strengsten Geheimnis wurde es der Direktion überreicht, und im Dezember 1812 im k.k. Burgtheater aufgeführt. Der zwar nicht rauschende, aber darum unparteiische Beifall, den es dennoch erhielt, munterte mich auf, auf dieser Bahn fortzuschreiten, und so begann ich im verhängnisvollen Sommer von 1813 das Trauerspiel: Heinrich von Hohenstauffen. O, wie viel heiße Tränen flossen dem Schicksal Deutschlands und meines Vaterlandes während der Beschäftigung mit den ersten vier Akten! Die Nachricht von dem Siege bei Kulm lichtete zuerst den gesunkenen Geist wieder auf, und ich endigte den fünften Akt im Vorgefühl des Triumphs. Diesem Stücke ward eine Ehre und Aufnahme, deren sich nicht leicht ein anderes erfreuen konnte; denn die Direktion war so gütig, es zur Benefizvorstellung für die in der Leipziger Schlacht verwundeten Krieger, drei Tage nach der Ankunft des Kuriers, während ganz Wien im Taumel der Freude schwamm und halb Europa in unsern Jubel einstimmte, mit großer Feierlichkeit aufführen zu lassen. Die vollständige Erleuchtung des Schauspielhauses, das Bild des Monarchen, welches während des Prologs auf dem Theater stand, die Anwesenheit des ganzen übrigen Hofes, das Lied: Gott erhalte den Kaiser, das unter dem ungestümsten Vivatrufen abgesungen wurde, alles stimmte die Gemüter im voraus günstig, das Stück wurde mit lautem Beifall[408] men, jede, einer Deutung fähige Stelle aufgefaßt, und so konnte ich wohl sagen: die mit Tränen säeten, werden mit Frohlocken ernten.

Eine günstige Verkettung der Umstände brachte mich auch in freundliche Verhältnisse mit den meisten und vorzüglichsten Schriftstellerinnen meines Vaterlandes. Frau von Bacsányi, mehr und früher unter ihrem Familiennamen Fräulein von Baumberg bekannt, war in meiner Jugend eine meiner liebsten Gefährtinnen; ihre nachmaligen Schicksale führten uns auseinander. Späterhin lernte ich Frau von Weissenthurn, Freiin Maria von Zay, Frau von Neumann und Fräulein Therese von Artner, in der literarischen Welt bekannt unter dem Namen Theone, kennen und achten, und mit der letzten verband mich eine wunderbare Übereinstimmung der Gemüter zu einer innigen Freundschaft. In allen diesen Frauen lebte jene Achtung für echte Weiblichkeit, Häuslichkeit und Ordnung, welche allein, nach meinem Gefühl, weiblicher Schriftstellerei ihren wahren Wert und den Freibrief gibt, unter welchem sie sich, ohne gerechten Tadel zu fürchten, der Welt zeigen darf.

Noch hatte bis zum Jahre 1815 der gütige Himmel meiner trefflichen Mutter das lange, ehrenvolle Leben in ziemlich heitern Schicksalen gefristet, bis sie, die die Stürme des Vaterlandes mitgetragen, auch seine Rettung und seinen erneuerten Glanz wieder gesehen. Sie starb im Jänner des obengenannten Jahres, bei übrigens vollkommener Gesundheit, und im Besitz aller ihrer reichen geistigen Kräfte, geachtet und verehrt von allen, die sie gekannt, ganz so, wie sie es oft gewünscht, an einem Schlagfluß, mitten in dem regen, freudigen Leben, welches der Kongreß zu Wien verbreitete, dessen mancherlei[409] Annehmlichkeiten durch interessante Bekanntschaften und lebhafte Geistesanregungen sie noch in ungestörter Heiterkeit genossen hatte.

Seitdem habe ich manche Erzählung, einige dramatische Arbeiten, und bei geselligen und öffentlichen Veranlassungen manches kleine Gedicht gemacht, und die Sammlung meiner Arbeiten ist in vierundzwanzig Bänden erschienen. Meine letzte größere Arbeit bis jetzt, und wahrscheinlich wohl für mein Leben, welches sich schon jenem Alter naht, wo man sich freiwillig ein Ziel stecken soll, um sich nicht selbst zu überleben, war der Roman in vier Bänden: Frauenwürde, in welchem ich manche Beobachtung und Erfahrung meines ziemlich langen Lebens ebenfalls mit Veränderungen niedergelegt habe, welche Klugheit und poetische Behandlung unerläßlich machten. Möchte er das Gute stiften, welches ich dabei beabsichtigt, und, indem ich ihn durch die zweite Hälfte des Mottos aus Schillers Braut von Messina: Der Übel größtes aber ist die Schuld, gleichsam zum Gegenstück des Agathokles bestimmt habe, auf dem die erste Hälfte jenes Spruches steht, – mir auch so viele Freude und Beruhigung, wie dieser gewähren, aus welchem manches leidende Gemüt, wie mir zu oft schriftlich und mündlich versichert worden ist, als daß ich es bloß für Schmeichelei halten sollte, Trost, manches zweifelnde Ruhe geschöpft hat, und manches gute Herz mir in der Ferne gewonnen ward![410]

Quelle:
Pichler, Caroline: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. 2 Bände, Band 2, München 1914, S. 391-411.
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