106. Calpurnia an ihren Bruder Lucius.

[53] Nikomedien, im Mai 305.


Welche unerhörte Sachen geschehen hier! Es ist, als ob man sich den Mauern dieser unseligen Stadt nur nähern dürfte, um sogleich in den Strudel der Verwirrung,[53] der Angst und Qual gezogen zu werden, der den größten Theil der Einwoher immerwährend mit sich fortreißt. Ach, Bruder, mein Herz hat richtig geahnet, und richtig empfunden, als es beim ersten Anblick des unvergeßlichen Freundes stärker als je bei eines andern Mannes Anblick schlug! Was habe ich um seinetwillen schon gelitten! Was werde ich noch zu leiden haben! Der Streit zwischen Constantin und Galerius ist offenbar ausgebrochen – dieser hat Jenem, wie man sagt, nach dem Leben gestrebt. Constantin ist hierauf entflohen, aber in Chalcedon ergriffen, und wieder nach Nikomedien gebracht worden, und Galerius hat einen lauten Schwur gethan, ihn öffentlich hinrichten zu lassen. So standen die Sachen gestern. Agathokles hört diese Nachricht – er erkennt die Gefahr seines Freundes, und reißt sich aus den Armen eines geliebten Weibes, aus dem Schooße des häuslichen Glückes, besticht die Wachen, die den Constantin lieben, und ohnedies den verehrten Feldherrn unwillig in dem schmählichen Gefängnisse und zum Tode bestimmt sahen, und beredet diesen, an seiner Statt und in seinen Kleidern den Kerker zu verlassen, indem er sich für ihn dem Tode weiht. Constantin nimmt das ungeheure Opfer an, entflieht, und ist jetzt schon vielleicht in Byzanz. Galerius wüthet über den Betrug, der ihm gespielt wurde, und hat öffentlich erklärt, daß kein Mensch bei Lebensstrafe sich erkühnen dürfe, auch nur ein Wort für Agathokles Leben zu sprechen, den er jetzt noch ärger als Constantin haßt, und zu verderben geschworen hat; und der schändliche Marcius Alpinus unterläßt nichts, was in seiner Macht steht, um die alte Nache am Agathokles zu kühlen. So wird der edelste Sterbliche, den ich je[54] gekannt, ein Opfer seiner überspannten Begriffe, und der Bosheit niedriger Menschen, und es übrigt kein Strahl von Hoffnung, um ihn zu retten.

Vorgestern noch war er bei mir, so fröhlich, so heiter, daß unwillkührlich die schönen Stunden in Rom vor meine Seele zurückkehrten – und heute? Tiridates war der erste, der die Schreckensbotschaft hörte. Agathokles fand die Möglichkeit, einen Soldaten von der abgehenden Wache zu ihm zu senden, und ihm sein Weib, seine Kinder zu empfehlen. Ich habe Tiridates nie liebenswürder gesehen, als in dem Augenblick, wo er tief erschüttert und mit Thränen mir die Gefahr seines Freundes ankündigte, und mich bat, die unglückliche Frau auf die schreckliche Nachricht vorzubereiten, und sie in ihrem Schmerz nicht zu verlassen. Ich fiel ihm weinend um den Hals, und wir gelobten uns mit Thränen, Alles zu thun, was zur Rettung oder zur Erleichterung des edlen unglücklichen Paares in unserer Macht stand.

Ich ließ mich sogleich zu Theophanien führen. Ich fand sie in unbeschreiblicher Angst; denn Agathokles war vor mehreren Stunden fortgegangen, ohne daß sie wußte, wohin – aber in einer Fassung, die sie Alles fürchten ließ. Langsam und nach und nach ließ ich sie mehr errathen als hören, was geschehen war, und nun fing sie heftig an zu zittern, eine Todtenblässe überzog ihr Gesicht, und sie sank leblos von dem Stuhle herab. Es brauchte mehr als eine Stunde Zeit, bis sie wieder ein Zeichen des Lebens gab, dann aber wechselten Ohnmacht und halber Wahnsinn mit einander ab, und in diesem bedauernswürdigen Zustande ist sie noch. Die Aerzte fürchten sehr für ihr Leben, besonders wenn die erschütterte Natur den[55] Zeitpunkt, der ihr nahe bevorsteht, beschleunigen sollte. Ich habe mir vorgenommen, sie nicht zu verlassen, und werde es halten; es ist vielleicht der letzte Beweis wahrer, treuer Freundschaft, den ich meinem verlornen Freunde geben kann. Leb' wohl.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 53-56.
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