109. Calpurnia an ihren Bruder Lucius.

[64] Nikomedien, im Mai 305.


Trübe und langsam schleicht die gelähmte Zeit hin, ein Tag reiht sich an den andern, keiner bringt Rettung, keiner Hoffnung, so thöricht auch oft das Herz auf eine Möglichkeit hofft, wo nicht die geringste Wahrscheinlichkeit einer Aenderung vorhanden ist. Galerius ist wüthend über den Ungeheuern Betrug, der ihm gespielt worden. Er hatte dem Constantin nachsetzen lassen, aber dieser hatte durch die kluge Standhaftigkeit seines Freundes bereits einen zu starken Vorsprung, und wir wissen sicher, daß er weit über Byzanz hinaus sich den Grenzen Illyriens nähert. Bis ihm dort die Diener, des Tyrannen nachfolgen können, hat er wohl schon Gallien, oder das Meer erreicht, und ist in Sicherheit. Nun fällt der ganze Zorn des Augustus auf seinen unglücklichen großmüthigen Freund. Er war im eigentlichen Sinne außer sich vor Wuth, er schäumte, brüllte, und mißhandelte Alle, die sich ihm näherten. Er befahl, Agathokles auf der Stelle das Urtheil zu sprechen, und ihn – mich schaudert, es zu schreiben – im Circus den wilden Thieren vorzuwerfen. Alle Freunde des Unglücklichen, alle bessern Menschen in Nikomedien fanden sich durch dies unmenschliche Urtheil empört, und vereinigten sich, dem Tyrannen Vorstellungen zu machen. Das würde indessen wenig gefruchtet haben, wenn nicht die Jovianer, deren Tribun[64] der edle Verurtheilte war, sich laute Klagen, und ganz unzweideutige Zeichen der Unzufriedenheit erlaubt hatten. Tiridates wagte, was seit Constantins Flucht Niemand gewagt hatte, er ging zu dem wüthenden Galerius nach Cäsarea, wo dieser sich gewöhnlich aufhält, und wußte ihm die üble Stimmung des Volks, den gährenden Unmuth der Leibwache, und die Gefahren, die das Alles für eine neue Regierung haben konnte, so geschickt vorzustellen, daß Galerius von seinem rachedürstenden Ausspruch abstand. Das Leben des theuern Freundes zu erbitten, war unmöglich. Alles, was Tiridates noch erhielt, war eine Frist von einigen Tagen, die Erlaubniß, Agathokles zu besuchen, und die Hoffnung, daß auch diesem vergönnt werden würde, sein unglückliches Weib und seine übrigen Freunde noch ein Mal zu sehen.

O wie lernt der Mensch genügsam seyn, wenn ihn das Unglück in seiner harten Schule erzieht! Wie schienen diese geringen Vergünstigungen uns so bedeutend! Wie freudig eilte ich zu der bedauernswürdigen Frau, um ihr diese Hoffnungen anzukünden, und ihr den Trost zu geben, daß Agathokles nicht ganz einsam und verlassen sey, daß mein Mann ihn täglich besuchen würde. Seit dem Augenblicke, wo sie durch mich die Schreckensnachricht hörte, war ich fast beständig bei ihr, und fand eine Art von Beruhigung und Erleichterung darin, Alles für die Gattin des edeln Unglücklichen zu thun, was in meiner Macht stand. Aber was vermag die treueste Freundschaft über einen so gerechten, so unendlichen Schmerz! Ich fürchtete wirklich für ihr Leben, und manchmal für ihren Verstand, bis endlich gestern ein Brief von ihrem Manne eine Veränderung bei ihr bewirkte, von deren Möglichkeit[65] ich keinen Begriff gehabt hatte. Eine Purpurrröthe übergoß die todtblassen Wangen, ein heftiges Zittern ergriff ihre Glieder, sie drückte den Brief mit stummem Entzücken an ihre Lippen, an ihre Brust, und ihr zum Himmel emporgeschlagenes Auge zeigte mir, daß sie ihrem Gott ein inniges Dankgebet brachte. Dann las sie, aber sie brauchte so lange, daß ich glaube, sie muß den Brief dreimal durchgelesen haben. Jetzt stürzten wohlthätige Thränen, die ersten, die sie seit der Zeit ihres Unglücks vergossen hatte, aus ihren Augen, und man sah deutlich, wie dieser Ausbruch ihr gepreßtes Herz erleichterte. Ich störte sie nicht, ich weinte still mit ihr. Als sie sich Luft gemacht hatte, stand sie auf, und sagte mit einer Würde und Festigkeit in Haltung und Ton, die ich lange nicht an ihr gesehen hatte: »Er hat mir geboten zu leben, so will ich ihm und der Tugend gehorchen, ich will das Leben ertragen.« Ich sah, daß sie aus dem Zimmer gehen wollte, ich unterstützte sie, und fragte, wohin sie wollte? »Zu meinem Sohne!« antwortete sie. »Der Vater befiehlt, mich für das Kind zu erhalten.« Ich bat sie ruhig zu seyn, und schickte um das Kind. Der Kleine kam. Die Scene, die nun vorfiel, wird nie aus meinem Gedächtnisse schwinden, sie war in demselben Grade erhebend und schmerzlich. Wahrlich, es muß ein großes Gefühl seyn, was diese Menschen Glauben nennen, denn es gibt ihnen mehr als menschliche Kräfte. Seit dem faßt sie sich mit einer Stärke und Geduld, die Alles übersteigt, was ich je gesehen habe. Sie pflegt ihr Kind, so viel es ihre Schwäche erlaubt, sie folgt allen Vorschriften des Arztes, sie spricht mehr, sie strengt sich sogar an, zu thun, als könnte sie an etwas Anderm Theil[66] nehmen. So hat sie gestern von Sulpicien zu sprechen angefangen, ich ergriff dies Gespräch gern, weil ich dachte, es wäre ihr nützlich, sich zu zerstreuen, aber mitten im Reden, wo vielleicht irgend ein Wort, eine Nebenidee sie an ihr Unglück erinnerte, verstummte sie plötzlich, brach in Thränen aus und schwieg.

Und das Alles ist Wirkung ihrer Liebe, ihrer Liebe zu einem Manne, der sie seinem Freunde so auffallend nachsetzt, und ihr Glück, ihr Leben für die Freiheit des Andern aufopfert! O welche unselige Macht der Leidenschaft! Und welcher ungeheure Mißbrauch, den Euer Geschlecht von der Gewalt macht, die hergebrachte Sitte und unsere zu große Nachgiebigkeit euch über uns einräumen! Eher wird kein Weib zum Besitz ihrer natürlichen Rechte kommen, bis sie es über sich vermag, den tiefgewurzelten, durch tausend Vorurtheile genährten Wahn auszurotten, daß wir nur in der Liebe, und also nur durch Euch glücklich werden können. Und wann wird diese goldne Zeit erscheinen, wo diese kühne Wahrheit allgemeine Ueberzeugung werden wird?

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 64-67.
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