35. Apelles an Junia Marcella.

[86] Trachene, im Nov. 301.


Ein kleines Geschäft, welches ich auf dem Wege hierher bei einem Freunde abzuthun hatte, verzögerte meine Ankunft um zwei Tage, und setzt mich dadurch in den Stand, dir, meine verehrte Freundin, Nachricht von mir, von dem Schicksale der Gegend umher, und den Personen geben zu können, an denen dein Herz gewiß Antheil nehmen wird. Sehr glücklich würde ich mich schätzen, wenn es dem Himmel gefallen hätte, diese Schicksale so zu leiten, daß ich dir recht erfreuliche Nachrichten geben könnte. Leider aber ist hier Manches vorgefallen, das zu erzählen und mit der gehörigen Schonung und Treue vorzubringen, eine wahrhaft traurige Freundschaftspflicht ist. Bereite dich, höchst unangenehme, ja gewissermaßen schreckliche Neuigkeiten zu hören; und vergiß nie den großen Gedanken, daß ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache, kein Haar von unserm Haupte fällt, daß unsere Tage gezählt sind, und daß ja nicht diese Erde allein der Schauplatz der Regierung, der Liebe, der Barmherzigkeit Gottes ist. Lege jetzt dies Blatt auf einen Augenblick aus der Hand, fasse dich in Ergebung und Geduld, und dann lies den traurigen Bericht zu Ende, den ich dir zu geben habe.

Du weißt vielleicht, so wie ich es bei meiner Annäherung[86] in diesen Gegenden erfuhr, daß die Gothen seit einiger Zeit wiederholte Ueberfälle auf den Küsten des Bosphorus, auf unserer als der Europäischen Seite gewagt haben. Hie und da erzählte man mir von ihrer Grausamkeit, von ihrer Kühnheit, ihrer Raubsucht sehr fürchterliche Beispiele, und ich kann dir nicht bergen, daß der Gedanke, an einen Ort zu reisen, der so nahe an der Meeresküste und ihren Raubzügen so ausgesetzt ist, mir nicht sehr erfreulich war. Indessen hoffte ich durch meinen Besuch, außer dem Troste, den ich Larissen überhaupt in ihrem Leiden zu bringen hatte, auch noch vielleicht in der Rücksicht etwas Gutes für sie zu bewirken, daß ich Demetrius zu überreden dachte, diese gefährliche Nachbarschaft zu verlassen, und den Winter an einem sicherern Orte zuzubringen. Ach, meine verehrte Freundin! Was sind die Rathschlüsse und Vorsätze der Menschen vor dem Rathschluß Gottes, der sie wie Spreu vor dem Winde zerstreut! Meine Hoffnungen, mein Vorhaben, meine Ankunft, Alles, Alles war zu spät. Zwei Tage, ehe ich in Trachene anlangte, hatten die Barbaren eine Landung gewagt, waren in der Nacht ausgestiegen und mit wildem Geschrei und Lärmen gerade auf Demetrius Villa zugeeilt.

Demetrius, statt sich und die Seinigen durch eine eilige Flucht zu retten, die vielleicht noch möglich gewesen wäre, ging ihnen mit seinen bewaffneten Sclaven entgegen. Der Kampf begann, aber die Uebermacht war so sehr auf der Seite der Feinde, daß die im Hause Zurückgebliebenen keine Zeit hatten, sich vor den Siegern zu flüchten, oder zu verbergen. Demetrius ward ermordet, seine Sclaven starben neben ihm, die Gothen drangen[87] in's Haus, die zitternden Sclavinnen, und – aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihre unglückliche Gebieterin – fielen unter den Streichen der durch den heftigen Widerstand bis zur Raserei erhitzten Barbaren. Das Haus wurde geplündert, ein Theil davon in Brand gesteckt, und die Horde entfernte sich am Morgen mit wildem Siegsgeschrei wieder von dem verheerten Ufer. Erst lange nach ihrem Abzüge wagten es die nächsten Anwohner, zu denen sich ein paar Unglückliche aus der Villa gerettet hatten, den Schauplatz der Gräuel zu betreten, und zu sehen, ob vielleicht noch einige Hülfe zu bringen wäre. Sie fanden Alles leer, still – ausgestorben. Demetrius und seine Sclaven lagen todt auf dem Wahlplatze, aber unter so vielen Leichen von Barbaren, daß man sah, sie mußten heldenmüthig gefochten, und ihr Leben theuer verkauft haben. In dem Hause fand man noch einige ermordete Sclaven und Sclavinnen, und in Larissens Gemach eine weibliche Leiche, die durch Wunden zwar sehr entstellt, aber durch die Kleidung und einen goldreichen Schleier kenntlich war, der mit Blut bespritzt neben ihr lag. Einige Mädchen und ein paar Sclaven werden vermißt. Wahrscheinlich haben die Barbaren sie mit sich fortgeführt, oder sie sind in dem verbrannten Theil des Hauses ein Raub der Flammen geworden. Wie dem immer sey, es ist mehr als wahrscheinlich, ja, meine verehrte Freundin! es ist gewiß, daß Gott sich des langen Leidens unserer unglücklichen Schwester erbarmt, und sie auf eine – freilich für die Übriggebliebenen schreckliche Art zu sich genommen hat. Sie hat wahrscheinlicher Weise weniger dabei gelitten, als wenn sie ihr Leben auf einem schmerzlichen Krankenlager geendigt hatte, eine schreckliche[88] Stunde vielleicht während des Kampfes, von der sie vorher keine Ahnung hatte, und ein paar schmerzhafte Augenblicke, bis Wunden und Blutverlust ihrem Leben ein Ende gemacht hatten. Nach den Aussagen der Sclaven, die die Todten gesehen, und bestattet haben, waren ihrer Wunden so viel, und von solcher Art, daß sie unmöglich länger, als ein paar Minuten, kann gelebt haben. Dies muß bei dieser schrecklichen Catastrophe ihren Uebriggebliebenen zum Troste dienen. Ueberhaupt sind ja selten die zu beklagen, die hingehen, ein schwankendes Glück mit ewigen Freuden zu vertauschen; am wenigsten dann, wenn ihr Daseyn ohnedies in steten Kämpfen, und ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihres Schicksals dahin floß. Ich will aber nicht unternehmen, dich zu trösten. Ich sehe die Größe deines Verlustes zu wohl ein; denn ich habe unsere Entrissene gekannt, und die Art, wie wir sie verloren, muß durch ihre Neuheit und Grausamkeit unsere Gemüther erschrecken und tief verwunden. Doch erwarte ich von deiner Standhaftigkeit, deiner Gottesfurcht und Theophrons freundschaftlichem Umgang das Beste für deine Beruhigung.

Ich wäre auf der Stelle wieder umgekehrt, und diesem Briefe gefolgt, den ich blos in der Absicht anfing, um den Alles vergrößernden und oft so falschen Gerüchten, wo möglich, zuvorzukommen, und dich, meine verehrte Freundin! auf eine schicklichere und bessere Art von dem Schicksale unterrichten; aber den Morgen nach meiner Ankunft fand sich ein Geschäft, eine Bestimmung für mich, in deren Würde und Gehalt ich einen Fingerzeig der Vorsicht zu finden glaubte, warum sie mich gerade jetzt auf diesen Schauplatz der Zerstörung[89] und Trauer geführt hatte. Abends war ich in Trachene angekommen, und hatte von den zitternden Nachbarn die Schrecken der vorletzten Nacht erfahren. Man hatte meinen Antheil an den unglücklichen Bewohnern der Villa gesehen, mir auf mein Bitten den Schleier Larissens ausgehändigt, den ich dir als das einzige Vermächtniß dieser theuren Verklärten zu bringen dachte, und versprochen, mich am Morgen auf die Brandstätte zu führen. Dies geschah auch. Indeß wir in dem verödeten Hause herumgingen, hörten wir auf einmal ein lautes Getöse, wie von mehreren Pferden. Ich trat an ein Fenster, und sah einen jungen Mann von edler Gestalt, von mehreren Sclaven zu Pferde begleitet, in den Hof sprengen. Die Fremden stiegen ab, es sammelten sich Leute um sie, ich sah den jungen Mann in heftiger Bewegung mit ihnen sprechen, sie befragen. Eine geheime Ahnung sagte mir, wer es seyn könnte. Ich eilte hinaus, um ihn selbst zu berichten. Leider kam ich zu spät. Agathokles – denn du wirst, wie ich, errathen haben, wer der Fremde war – lag ohne Besinnung in den Armen seiner Begleiter. Die Leute hatten ihm die traurige Geschichte ohne Vorsicht und mit allen Vergrößerungen und Verschlimmerungen erzählt, die solche Menschen dazu zu dichten pflegen. Ich ließ ihn in's Haus bringen. Nach einer Weile erholte er sich, aber sein Blick war wild, seine Reden unzusammenhängend. Als ich mich genannt hatte, schien ein Strahl von Ruhe in seine Seele zu fallen; er sah mich an, sank an meine Brust, und seine Thränen, die zu fließen anfingen, erleichterten sein gepreßtes Herz. Ich trug ihm nun die Begebenheit so vor, wie ich sie ansah, wie sie eigentlich war, und wie ich sie dir berichtet habe. Das[90] schien ihn etwas zu beruhigen, er faßte die Vorstellung begierig auf, daß seine Larissa nicht so viel gelitten hatte, daß ihr nun besser sey, als ihm. Dennoch blieb eine wilde Schwermuth, die an Verzweiflung grenzte, in seinem Wesen. Endlich stand er auf. »Verzeih, daß ich dich verlasse, mein Zustand bedarf der Einsamkeit, der Ruhe – in ein paar Stunden sehen wir uns wieder.« Ich sah ihn zweifelnd an: Fürchte nichts, antwortete er, indem er mit einem wehmüthigen Lächeln meine Hand ergriff: was dir deine Religion verbietet, erlauben mir meine Grundsätze auch nicht. Ich schämte mich meines Verdachts, und verließ ihn. Nach einer langen Zeit suchte er mich wieder auf: Er war gelassener als vorhaben und im Stande, zusammenhängend über die schreckliche Geschichte und seinen Verlust zu sprechen. Dann ordnete er an, daß Larissens Schlafgemach mir und ihm zur Wohnung eingerichtet werde. Ich wollte mich anfänglich diesem Vorhaben, aus Schonung für ihn, widersetzen; aber ich sah bald, daß sein Herz nicht wie die gewöhnlichen Herzen war. Die Umgebungen, in denen sie gelebt hatte, die Erinnerung an ihre Tugenden, an ihre Geduld, an ehre Liebe zu ihm, schienen sein Gemüth zu erheben, statt seinem Schmerz zu vergrößern. Er fing am andern Morgen an, mit mir in der Gegend herumzugehen, sich nach Allem was vorgefallen war, zu erkundigen, und thätige, und sehr zweckmäßige Anstalten zur Verhütung eines neuen solchen Unglücks zu treffen. Die Einwohner wurden angewiesen, ihre besten Sachen in die nächste Stadt zu bringen. Er ließ den Männern Waffen austheilen, ordnete an, wie sie sich üben, und zur Vertheidigung vorbereiten sollen. Er veranstaltete Lärmsignale auf den Hügeln, wodurch[91] in wenig Augenblicken die ganze Gegend aufgeschreckt, und unter den Waffen seyn kann. Kurz, es schien, als ob sein eigener Verlust vor der allgemeinen Gefahr verschwunden wäre, und er nur für Andere denken, für Andere sorgen könnte. Wenn wir dann allein waren, kehrte die schmerzliche Empfindung freilich mit doppelter Starke zurück; aber ich bin versichert, daß sie seine Tugend nie überwältigen, nie seine Kraft zum Guten lähmen wird. Er hat mich gebeten, ihn nach Nikomedien zu begleiten, wohin er morgen abreiset, um noch kräftigere Anstalten zur Abtreibung der feindlichen Einfälle zu machen. Ich konnte ihm diese Bitte nicht versagen, denn ich gestehe dir, daß ich ihn liebe und verehre. Auch Larissens Schleier habe ich ihm gegeben. Er war dieses Vermächtnisses so würdig als du, und seiner vielleicht noch mehr bedürftig. Zwar schauderte er bei Erblickung desselben und der Spuren von Blut, die daran hafteten; seitdem aber, glaube ich, ist er nie wieder von seiner Brust, auf der er ihn verwahrte gekommen. Ich weiß, meine Freundin! daß du mir diesen Raub und mein längeres Außenbleiben verzeihst. Sage dasselbe auch unserm verehrten Vater Theophron, und erwirke mir von ihm Verlängerung meines Urlaubs.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 32, Stuttgart 1828, S. 86-92.
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