49. Theophania an Junia Marcella.

[67] Nicäa, im September 302.


Bis zu meiner Ankunft an der Küste von Bythynien war ich im ersten Briefe gekommen. – Mit Wonneschauer, mit einem Entzücken, das mir bisher unbekannt gewesen war, betrat ich den geliebten Strand, wo ich Alles zu finden hoffte, was mein Leben zur Himmelsseligkeit erhöhen, mir voller Ersatz für so viel freudenlose Jahre seyn sollte. Ich war frei, keine Pflicht hinderte[67] mich mehr, schuldlos dem süßen Zuge zu folgen, der, seit der Kindheit in mein Wesen verwebt, mir zur theuern Gewohnheit, zur zweiten Natur geworden war. Heliodors Jahre und seine strengen Grundsätze, die jede heftigere Neigung für ein Geschöpf als sündlich, als unserer höhern Bestimmung zuwider verdammten, hielten mich ab, ihm meine Empfindungen zu entdecken. Ich ehrte seine Grundsätze, weil ich ihren Ursprung in einem vom Irdischen abgezogenen Gemüth erkannte, weil ich einsah, daß nur solche Gesinnungen ihm die heilige Achtung für Alles einflößen konnten, was er für Pflicht hielt, daß er nur durch sie fähig war, das Apostelamt bei barbarischen Völkern zu übernehmen, jede Bequemlichkeit des Lebens, und das Leben selbst für gering zu achten. Ich verschloß meine Freuden, mein süßes Geheimniß in meiner Brust, und genoß sie vielleicht um desto inniger. Mein Vorsatz war, sogleich nach Nikomedien zu gehen, wo ich Agathokles selbst, oder doch Nachricht von ihm zu finden hoffte. Wir nahmen Pferde, und auf mein dringendes Bitten einen Sclaven zur Begleitung. Heliodor war mein Vater, ich seine Tochter, die Wittwe eines Kaufmanns aus Byzanz. So machten wir uns auf den Weg. O welche glänzenden, entzückenden Bilder malte mir nicht meine Phantasie? Welche frohen Geschichten erzählte ich mir nicht in den vielen stillen Stunden unserer Reise? Ich wußte, daß Synthium, Agathokles Landgut, an der Straße von Chalcedon nach Nikomedien liegt. Der Gedanke, dahin zu gehen, ihn vielleicht dort zu treffen, wenn er im düsteren Schatten seiner Gärten schwermüthig ging, und manches Bild einer bessern Vergangenheit vor seinen Blicken schwebte, ihm dann zu begegnen, und wenn er[68] erstaunt zurückbebte, an seine Brust zu sinken, und ihm zu sagen, daß wir glücklich, daß wir vereinigt wären – dieser Gedanke, diese Aussichten machten mein Herz vor Freude zittern, und so näherten wir uns den waldigen Hügeln, hinter denen es verborgen liegt. Heliodor'n wagte ich nicht, meinen geheimen Wunsch zu entdecken, ich gab eine große Ermüdung vor, und bat ihn, weil der Abend einbrach, in dem Dorf, das vor uns lag, zu übernachten. Wir ritten langsam die Straße hin, und schon sah ich das Dach des Hauses freundlich zwischen dunkeln Pinien hervorblicken. Ein Theil des Gartens erstreckt sich bis an den Weg, gegen welchen er sich in ein großes Gegitter endigt, das die Aussicht auf die Straße und die Gegend umher gewährt. Das wußte ich noch recht wohl, und freute mich, Alles so zu finden, wie es in den guten Tagen meiner ersten Jugend gewesen war. Wie wir uns dem Garten näherten, sah ich zwei Frauenzimmer in häuslicher Tracht, die aber trotz ihrer Einfachheit Reichthum und hohen Stand verrieth, Arm in Arm den Platanengang herabwandeln. Das Gitterthor war offen, unser Anblick hatte sie herbeigezogen, sie traten heraus. Es waren zwei vollkommen schöne Gestalten; die Eine schlank und majestätisch gebaut, mit dunkeln Augen und Haaren, schien älter, und ein Zug von Kummer in dem blassen Gesichte machte sie mir lieber, als ihre jüngere Gefährtin, die in der Fülle der Jugend und Schönheit neben ihr stand. Die Erscheinung befremdete mich. Eine unangenehme Empfindung bemächtigte sich meiner. Hatte Agathokles das Landgut verkauft? Wohnte er nebst diesen schönen Frauen hier? Mein Herz schlug ängstlich. Jetzt hatten auch sie uns erblickt, und grüßten uns freundlich.[69] Ich sandte den Sclaven ab, um mich bei ihnen zu erkundigen, wem die Villa gehöre, und ob wir im Dorf eine Nachtherberge finden könnten. Der Sclave kam bald zurück, und brachte die Antwort, die Villa gehöre einem kaiserlichen Tribun, im Dorfe würden wir keine anständige Unterkunft finden; wenn wir ihnen aber das Vergnügen machen wollten, bei ihnen zu bleiben, so würden sie sich bemühen, uns einen erträglichen Aufenthalt für diese Nacht zu verschaffen. Das Zuvorkommende dieser Einladung, noch mehr aber die Begierde hier klar zu seyen, trieb mich an, das Anerbieten anzunehmen, trotz manches Widerspruchs meines Begleiters, der gegen die schönen geschmückten Frauen, gegen den hohen Wohlstand, den hier Alles verrieth, Manches einzuwenden hatte. Mein unseliger Vorwitz siegte. Ach was sollte ich erfahren! Wie bitter wurde meine Falschheit gegen Heliodor, die Absichtlichkeit meines ganzen Betragens gestraft!

Wir stiegen ab. Die Frauen empfingen uns sehr freundlich, man erkundigte sich nach unsrer Reise, und mit vieler Feinheit nach unsern Umständen. Wir erzählten, was wir bereits verabredet hatten. Mein Mann war in Byzanz gestorben, ich ging nach seinem Tode mit meinem Vater nach Nikomedien zurück. – Unsere wahre Geschichte hätte viel unglaublicher geklungen, als diese gewöhnliche Erdichtung. So kamen wir in den Garten. Ach, tausend Erinnerungen wehten mich aus den Wipfeln dieser Bäume an, bei jedem Schritte dachte ich den Eigenthümer des Gartens aus einem Gebüsche hervortreten zu sehen – die theure Gestalt zu erblicken, die stets vor meinen Augen schwebte! Wir setzten uns, das Gespräch fiel bald auf die Neuigkeiten des Tages; es wurde vom[70] Kriege, von des Cäsars letztem Siege, von den Hoffnungen des armenischen Prinzen Tiridates, dessen Ansprüche der Hof von Nikomedien so thätig unterstützte, gesprochen. Heliodor nahm eifrig Theil an diesen Nachrichten, das Gespräch wurde lebhaft. Die schöne junge Person lächelte ihre ältere Freundin schalkhaft an, und ein angenehmes Lächeln, das den trüben Blick dieser zweiten erhellte, zeigte mir, daß des Prinzen Schicksal sie nahe anging. Bald hörte ich auch ihren Namen. Es war Sulpicia, jene Römerin, von deren unglücklichen Leidenschaft mir Agathokles öfters erzählt hatte. Wie sie aber nach Bythynien und auf diese Villa kam, war mir unerklärlich. Heliodor, der noch einige Anstalten für unsre Reise zu machen hatte, entfernte sich jetzt. Sulpicia bat ihre Freundin, ihn zu begleiten, und Alles zu besorgen. Komm dann bald wieder, liebe Calpurnia, rief sie ihr freundlich nach – Calpurnia! Wie ein Blitzstrahl wirkte dieser Name auf mich, mein Blut stand still – ich war unvermögend, mich zu regen oder ein Wort zu sprechen. Erst, als der gefürchtete Gegenstand schon weit von uns war, erwachte ich aus meiner Betäubung. Also Calpurnia hier – auf dieser Villa! Schwankend wie die Erinnerung eines Traumes, kam mir nach und nach die Besinnung, daß ich von dir erfahren hatte, Calpurnia sollte mit ihrem Vater nach Bythynien kommen. Und sie war hier – sie lebte auf dieser Villa – als was? als was anders als die Braut – vielleicht die Gattin des Besitzers! Was in mir vorging, als diese Entdeckungen langsam, aber deutlich sich aus meinen verworrenen Gedanken entwickelten – o der Tod kann nicht bitterer seyn, als diese Gefühle! Darum war also bei der Ungewißheit[71] meines Schicksals auch nicht Eine Nachforschung nach mir, nicht Ein Versuch zu meiner Rettung gemacht worden!

Sulpicia war bei mir zurückgeblieben. Die Sonne sank hinter den Bergen hinab, ihr letzter Strahl brach durch das Gebüsch, und malte Alles um uns mit glänzendem Gold. Ich saß verloren in schmerzlichen Gefühlen, und hörte nur halb, was Sulpicia von der Stille und Schönheit des Abends sprach. Ich muß ihr nichts geantwortet haben, denn sie legte endlich die Hand auf meinen Arm, und sagte mit unbeschreiblich gütigem Tone: Du scheinst auch nicht glücklich zu seyn, liebe Fremde! Ich fuhr empor – ich sah sie starr an, ihr Auge wurde feucht, und meine Thränen brachen hervor. O, ich habe viel – viel verloren – rief ich erschüttert. »Das glaube ich. Verlust von dieser Art – sie deutete auf mein Trauerkleid – wird selten oder nie verschmerzt.« Ich war froh, so mißverstanden zu werden, ich ließ meinen Thränen freien Lauf, Sulpicia verstand mich, ohne mich zu ergründen; ich fand eine Art von Beruhigung in ihrer zarten Theilnahme. Ach sie weiß auch, was ein zerrissenes Herz ist!

Die Sonne war jetzt hinunter, Calpurnia kam hüpfend zurück, und ermahnte ihre Freundin, bei der sinkenden Dämmerung ihre Gesundheit zu schonen und in's Haus zu gehen. Wir standen auf. Im Hineingehen betrachtete ich diese reizende Gestalt recht aufmerksam. O sie schien mir jetzt, da ich wußte, wer sie war, noch schöner, noch verführerischer! Jede Bewegung war Anmuth – Wohllaut möchte ich sagen, jedes Wort bedeutend, jeder Blick siegreich. Als wir in einen Saal zu ebener Erde[72] traten, nahm sie mich auf eine muntere Art bei der Hand, und zog mich fort, um mir mein Schlafgemach zu zeigen. Es war ein niedliches kleines Zimmer, mit allen Bequemlichkeiteen des Wohlstandes, ohne Pracht versehen, und mit der Aussicht in den wildesten Theil der Gärten. Ein Spiegel an der Wand zeigte mir plötzlich, ich kann sagen, mit Schrecken, unsre beiden Gestalten, Calpurnia blühend, jugendlich, mit den siegreichen Blicken, den glänzend braunen Locken, die künstlich geringelt um die weiße Stirn, die rosigen Wangen, den blendenden Nacken flatterten, in der üppigsten Fülle einer glücklichen Schönheit – und ich neben ihr, verblüht, von Kummer verzehrt, von Sonne und Luft verbrannt, mit trüben Blicken und der tiefen Narbe auf den farblosen Wangen. O Junia! Nur die ungemessenste Eitelkeit oder die lächerlichste Verblendung hätte es wagen können, hier sich in einen Wettstreit einzulassen. Ich erkannte deutlich die Größe des Abstandes und meinen entschiedenen Verlust. Sie entfernte sich hierauf, »um mir Ruhe zu lassen,« sagte sie. Ach ja wohl! Sie läßt mir Ruhe – die Ruhe des Grabes, nachdem ich durch sie Alles verloren habe, was dem Leben Werth gibt. Ich weinte recht heftig, und weinte mich aus, ich warf mich auf meine Kniee und demüthigte mich unter der Hand des Gottes, der züchtigt, weil er liebt. Ich bat ihn um Stärke, und fühlte mich wirklich gefaßter, als nach einer Weile eine Sclavin kam, nm sich zu erkundigen, ob ich nichts bedürfe. Ich verlangte zu ihrer Gebieterin geführt zu werden. Das Mädchen brachte mich in einen Saal, der angenehm durch einige in schönen Urnen brennende Lampen erhellt[73] war. Sulpicia lag auf einem Ruhebette, Calpurnia ihr gegenüber hatte die elfenbeinerne Leyer im Arm, auf der sie eben gespielt und dazu gesungen hatte. Ich bat sie fortzufahren, da griff sie mit den Lilienarmen in die goldenen Saiten, und sang mit wollüstig schmelzender Stimme ein ziemlich loses Lied darein. Ich dachte der Zeit, wo ich auch gespielt und gesungen hatte, damals, als die ersten Gefühle in unsern jungen Herzen erwacht waren, und später in Edessa und Nisibis, wo mein Gesang oft die müden Wassengenoffen erheiterte, Demetrius Beifall mich lohnend ermunterte, und ein Auge voll Rührung und heiliger Liebe an meinen Blicken hing. Aber freilich, so verstehe ich nicht zu singen – mit so sprechenden Geberden, mit so wollustathmenden Lauten – und keine so weichen runden Arme bezauberten das trunkne Auge, indeß das Ohr dem Sirenensang lauschte.

So ward jeder Blick auf sie ein Stachel in meine Seele. Aber ich war noch zu etwas Härterem bestimmt, ich sollte den Kelch bis auf die Hefen leeren, und in keinem unaufgehellten Dunkel meines Geschickes den Trost der Ungewißheit, der möglichen Hoffnung erhalten. Es lagen Zeichnungen auf dem Tische; ich sah sie durch, es waren verschiedene Gegenstände sehr geschickt ausgeführt. Jetzt ergriff ich die größte und letzte – o Gott im Himmel, was erblickte ich? – Agathokles Bild, zu Pferde, in einer mir bekannten Straße von Nikomedien, in vollem kriegerischen Schmucke, und von einer Menge Menschen umgeben. Ich zitterte, lange hielt ich wie bewußtlos das unglückliche Blatt in der Hand – und mein Auge sah nur ihn. Es waren seine Züge, seine Haltung so genau, so lebendig! Meine Seele verlor sich im Anschauen.[74] Calpurniens Stimme weckte mich aus meinem Traume. Sie fragte mich, wie mir das Blatt gefiele? Vortrefflich – antwortete ich, und setzte in der schrecklichen Verwirrung hinzu – er ist zum Sprechen getroffen. »Wie, du kennst den Tribun?« rief sie rasch und sprang auf mich zu, gleich als hätte meine Bekanntschaft mit ihm mir ein höheres Interesse in ihren Augen gegeben. O wie lebhaft muß das seyn, das sie an ihm, das er an ihr nimmt! Es war zu spät, meine Unbesonnenheit wieder gut zu machen, ich mußte sie nun schicklich bemänteln. Ist es nicht Agathokles, der Sohn des Hegesippus? sagte ich. »Ja er ist's,« rief sie fröhlich, »du kennst ihn?« Ich erinnere mich, ihn vor mehreren Jahren in Nikomedien gesehen zu haben. »Und du findest das Bild getroffen?« Vollkommen, nur wünschte ich die Bedeutung zu wissen. Nun erfuhr ich, daß Agathokles sich in der letzten Schlacht außerordentlich ausgezeichnet hatte, daß er auf dem Wahlplatze zum Tribun erwählt, und vom Cäsar als Siegesbote zum Diocletian gesendet worden war. In diesem Augenblicke des schmeichelnden Volkszurufes hatte sie ihn gezeichnet – sie selbst. Sulpicia lächelte sein, als Calpurnia mir das erzählte. »Es ist kein Wunder,« sagte sie endlich, »daß sie ihn so gut getroffen hat; die Phantasie entwirft – und Eros1 führt die Hand.« Ein kleiner scherzhafter Streit begann nun unter den beiden Römerinnen, ein Streit, dessen Gegenstand Er – und seine Liebe zu Calpurnien war, – und ich war Zeugin, und ich wurde zuweilen von der freundlichen Sulpicia aufgefordert, Theil daran zu nehmen![75] O das war eine der bittersten Stunden meines Lebens!

Ich erfuhr durch diese kleine Neckerei endlich so viel, daß zwar Calpurnia noch nicht seine Gattin, aber seine Geliebte, und nicht viel weniger als seine Braut war, da ihr Verhältniß schon in Rom angefangen, und in Nikomedien fortgesetzt wurde, daß er aber jetzt wieder zum Heere abgegangen war, wo die Friedensunterhandlungen mit den Persern beginnen sollten.

Ich wußte genug, und entfloh, so bald ich konnte, in die Einsamkeit meines Zimmers. Kein Schlaf besuchte meine Augen. Ich hatte erlangt, was ich gewünscht hatte, ich war aus der Gefangenschaft befreit, ich war in meinem Vaterlande, auf seiner Villa – und wie war ich es, unter welchen Verhältnissen! Wild und verworren durchkreuzten sich Gedanken, Gefühle und Entwürfe in meiner Seele. Das allein fühlte ich klar, daß nun mein Lebensplau zerrissen, und ein neuer nothwendig war. Aus dem Kampfe streitender Kräfte, aus dem Chaos schmerzlicher Empfindungen ging er endlich hervor, wie ein einzigübriger Lebender sich bleich und schaudernd von dem, Schlachtfelde aufrichten mag, auf dem alle seine Brüder gefallen sind. Ich entwarf ihn mit klarer Besinnung, und du sollst ihn hören und billigen.

An eine Vereinigung mit dem, den ich nicht mehr nennen will, ist nicht zu denken. Er ist todt für mich, so will ich es auch für ihn seyn. Das Schicksal hat mein Daseyn zerstört, es hat mir Stand, Gemahl, Vermögen, Alles geraubt, alle Lebenshoffnungen zernichtet – so höre denn auch mein Wesen, mein Name auf. Larissa ist todt – sie ist unter den Ruinen von Trachene begraben.[76] Diese Theophania (du weißt, daß dies mein Christenname ist), die jetzt arm, verlassen, einsam zurückkehrt, ist ein anderes Wesen, fremd für die Welt, fremd für jene, die sie so schnell vergessen konnten. Sie ist nicht in Nikomedien geboren. Synthium ist der Ort ihrer Entstehung. Sie hat auch nichts mehr in der glänzenden Hauptstadt zu suchen. Einige Kostbarkeiten, die jene verstorbene Larissa rettete, und die immer einige Talente2 werth seyn mögen, werden ihr ein beschränktes, aber sorgenfreies Leben sichern. Sie kann entbehren – das Schicksal hat sie in seine Schule geführt. Sie wird mit Heliodor nach Nicäa gehen, und dort, entweder in dem Hause seiner Verwandten, oder einer andern unbescholtenen Christenfamilie Aufnahme und Schutz suchen. Dort wird sie unbemerkt leben, sterben, oder vielleicht nächstens zu ihren wilden Freunden zurückkehren, deren unverfeinerte Gemüther nicht fähig sind, jeden Eindruck so schnell fahren zu lassen.

Sobald der Tag anbrach, verließ ich mein Zimmer, und stieg in die thauigen Gärten hinab. Ungestört durchirrte ich die wohlbekannten Gänge, und rief mit schmerzlicher Lust die Bilder der Vergangenheit zu rück. Hier hatte ich als Kind mit den Gespielen der Kindheit schuldlos und glücklich gespielt, dort in jener dunkeln Pinienlaube hatten die Gefühle der Jungfrau zuerst Worte bekommen, dort hatten wir uns ewige Treue geschworen, und von dem Gipfel jenes Hügels wehten die Palmen im Morgenwind, unter denen seine Mutter uns oft um sich gesammelt, Lehren der Tugend und Weisheit in unsre[77] Seelen gesenkt, und uns mit einander und für einander gebildet hatte. Mit schmerzlich süßer Wehmuth, mit zerreißenden Gefühlen durchstreifte ich diese Denkmale einer bessern Vergangenheit. Als ich mich dem Hause näherte, kam mir Heliodor entgegen. Er hatte mich gesucht, um mich zur schnellen Abreise zu bestimmen. Ihm war es nicht wohl in diesem glänzenden Hause, in der Nähe der leichtfertigen Calpurnia. Sein Antrag kam mir erwünscht, ich ersuchte ihn zugleich den Reiseplan zu ändern, indem ich nicht mehr wie Anfangs gesonnen sey, nach Nikomedien zu gehen, wohin er mich ohnedies nur aus Gefälligkeit begleitet hätte. Und wohin willst du? sagte er. Wohin du gehst, erwiederte ich, nach Nicäa, oder an die Ufer des Borysthenes. Er sah mich sehr erstaunt und forschend an; aber er fragte nicht weiter. »Und was willst du in Nicäa machen, du bist ganz fremd dort?« »Ich bin es überall,« erwiederte ich, »du weißt, daß ich nirgends Freunde oder Verwandte habe. Willst du so gütig seyn, mir in deines edlen Bruders Hause eine Freistatt zu verschaffen, so wirst du dir ein unglückliches heimathloses Geschöpf ewig verpflichten.« Er schien nicht unzufrieden mit dieser Bitte, er versprach mir, gut und eifrig für mich zu sorgen; allein ich sah wohl, daß er nur für diesen Augenblick nicht weiter forschen wollte, daß ihm aber mein geänderter Entschluß sehr auffiel. Ich fühlte, daß ich seinem strengen Forscherblick nicht entgehen, und früher oder später mich ihm würde entdecken müssen. Doch gern unterwarf ich mich Allem, um nur aus dieser Villa, aus der Nähe von Nikomedien zu kommen. Wir nahmen Abschied. Man schien unzufrieden über unsern schnellen Aufbruch; Sulpicia zeigte eine wahre[78] Theilnahme, ich sah, daß ich ihr werth geworden war, und dies Gefühl that mir, von aller Welt Verlassenen, unendlich wohl. Wir verabredeten, einander zu schreiben. So schieden wir, und langten in zwei Tagen in Nicäa an. Heliodors Verwandte nahmen mich auf seine Empfehlung ungemein gütig auf; ich lebe mit ihnen, ich bin ruhig und verborgen in einem stillen Hause, unter guten Menschen, unter Christen – und so sind die kleinen Wünsche, die ich noch auf dieser Welt habe, erfüllt.

Fußnoten

1 Eros, ein Name des Amors.


2 Ein Talent galt ungefähr gegen tausend Gulden.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 33, Stuttgart 1828, S. 67-79.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.

180 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon