80. Calpurnia an ihren Bruder Lucius.

[39] Nikomedien, im April 303.


Einst war eine Zeit, wo ich Thränen und Kummer nur aus fremder Erfahrung kannte, oder ein seltner trüber Augenblick, eine leichte Sorge, ein bald zerstreuter Schmerz nur die hellen Farben in dem Gemälde meines Lebens durch seinen Schatten desto blendender erhob. O goldene Zeit, wo bist du hin? Mir ist, als hätte ich bis jetzt in dem schönen Traume der Kindheit gelebt, und wäre erst hier in Asien zur Wirklichkeit, zur reisen Besinnung[39] erwacht. Hesperien! Schönes mütterliches Land! Wie so ganz anders war es dort! Wie glücklich, wie beglückend war dort mein Leben! Und wie reizlos, wie düster ist es hier!

Meine arme Sulpicia werde ich schwerlich wieder sehen. Ihren letzten Brief erhielt ich vor einem Monate in eben der Zeit, wo ein frisch zerrissenes Band anderer Art mein Herz in trübe Stimmung versetzt hatte. Er enthielt Ahnungen ihres nahen Todes. Ich hatte das beinahe gefürchtet, als ich sie im vorigen Frühling in dem unseligen Synthium wieder sah. Ihr Zustand verschlimmert sich jetzt täglich, sie ist nicht mehr im Stande, zu schreiben. Vielleicht während ich dir dies sage, lebt sie nicht mehr. O meine Sulpicia! Unglückliches, schuldloses Opfer einer allzutreuen Zärtlichkeit! Vorgestern habe ich einen Brief von Tiridates erhalten, er war im Tone der düstersten Verzweiflung geschrieben. Jetzt, da er auf dem Punkte steht, sie auf ewig zu verlieren, ist seine Leidenschaft in ihrer ganzen Stärke erwacht. Ach, war es nicht ihr Verlöschen, was sie an den Rand des Grabes gebracht hat? – Welcher Widerspruch im männlichen Herzen!

Die Aerzte, sagt er mir, geben beinahe alle Hoffnung auf. Beinahe! An diesem schwachen Faden hält sich seine verzweifelte Liebe doch noch fest, und manchmal schimmert ein Hoffnungsstrahl durch das Dunkel seiner Seele. Armer Tiridates! Er ist sehr unglücklich, und trotz aller seiner Schuld und seines Leichtsinnes kann ich ihn jetzt nur beklagen; denn er leidet unaussprechlich, um so mehr, da sein Herz ihm heimlich Vorwürfe machen muß.[40]

So leiden denn alle guten Menschen, alle sind gequäkt. Und warum sind wir denn gut? Warum thut nicht jeder für sich, was ihm die Klugheit räth, ohne sich um die Andern zu bekümmern? O die Selbstsüchtigen sind die Glücklichsten, und je länger ich in der Welt lebe, je mehr sehe ich die Rechtmäßigkeit und Klugheit ihres Verfahrens ein. Krieg gegen Krieg, List gegen List, Kälte gegen Kälte! Wer am längsten aushält, ist der Glücklichere, und dann auch in seinen und der Welt Augen der Bessere, der Verständigere. Ist nicht in der ganzen Natur das Recht des Stärkern gültig? So denn auch in der gesitteten Welt, nur mit dem Unterschied, daß hier Verstand und Geschicklichkeit statt der körperlichen Kraft eintritt. Hier ist der Klügere der Stärkere. So laß uns denn klug seyn, und nichts als klug, so lange das Flämmchen des Lebens brennt. Dann faßt uns die Urne, und wir sind Staub, wir mögen für uns allein gesorgt, oder uns um Anderer willen hingeopfert haben.

Als ich dich verließ, als ich mit frohem Muthe das Schiff bestieg – o warum hat kein Gott mir damals mein Geschick verkündet, kein unglückliches Wahrzeichen mich zurückgehalten an dem vaterländischen Ufer! Zu welchen Erfahrungen bin ich nach Bythinien gekommen? Die ich liebe, muß ich entbehren und verlieren, die ich hasse, verfolgen mich, die ich vergessen möchte, ruft mir das Schicksal mit immer neuer Lebhaftigkeit zurück. Agathokles ist verheirathet, und lebt in Synthium. O wie viele Erinnerungen drängen sich in das einige Wort! Um seines Vaters Einwilligung zu seiner Heirath zu erhalten, hat er seinem Erbtheil entsagt. Du weißt, ich bin nicht habsüchtig, aber es ist keine Kleinigkeit, wenn[41] man im Ueberfluß erzogen worden ist, alle die tausend Bequemlichkeiten und Genüsse zu entbehren, die der Reichthum sichtbar und unsichtbar um seine Günstlinge verbreitet. Sein Vater hat dies Opfer nicht um ihn verdient, schon darum nicht, weil er diese Forderung machen konnte: dennoch bringt es Agathokles. Ich konnte seinen Schritt nicht billigen, als ich es hörte, aber ich mußte ihn achten. Noch war die Bewegung, die jene Nachricht in meinem Innern erregt hat, nicht ganz gestillt, als neue Kränkungen und neue Erinnerungen mir sein Bild in einem noch glänzendern, noch gefährlichern Lichte vor die Seele riefen. Ich bin ihm sehr verpflichtet geworden, und daß diese Schuld, die ich einst so gern übernommen haben würde, mich nun drückt, kannst du wohl denken. Der verächtliche Marcius Alpinus, von dem ich nun bestimmt weiß, daß er in Nicäa niedrige Absichten auf Theophanien gehabt hat, hat vermuthlich berechnet, daß es nicht so übel wäre, den Proconsul Lucius Piso zum Schwiegervater zu haben, und ist seit jenem unseligen Abend, wo er mich auf dem Wege nach Nikomedien fand, mein erklärter Verehrer und Freier. Er peinigte mich mit seiner Zudringlichkeit, er wandte sich an meinen Vater, an den Bruder, an einige Freunde, ich wurde von allen Seiten mit thörichten Erzählungen von seiner Leidenschaft, von den Qualen, die er um meinetwillen, und durch meine Härte leide, geplagt. Als mir diese Art von Peinigung zu viel wurde – o ich war in dieser Zeit so wenig gestimmt, mit Anderer Bosheit oder Thorheit Geduld zu haben! – erklärte ich ihm ein Mal geradezu, daß ich nun und nimmer die Seinige werden könnte.[42]

Ich war im Anfange ganz artig, aber der niedrige Mensch glaubte in dieser Schonung eine geheime Neigung, oder Furcht zu sehen – die Götter mögen wissen, was – genug, er wurde zudringlich, ungestüm; er trotzte auf Rechte, er wollte Ansprüche geltend machen. Da übermannte mich der Unwille, und ich zeigte ihm meine ganze tiefe Abneigung und Verachtung. Glaubst du, daß der Bösewicht dadurch beleidigt oder entrüstet worden wäre? Nicht im Geringsten! Lächelnd, mit einer Miene, die mein ganzes Wesen empörte, neigte er sich, und sagte: »Die schöne Calpurnia kleidet auch der Zorn, aber ich bitte sie nicht zu vergessen, daß diejenige, die in Männerkleidern einem grausamen Geliebten nachläuft, kein Recht hat, in diesem Tone mit einem Manne zu sprechen, der ehrliche Absichten auf sie hat. Bisher habe ich aus Schonung geschwiegen, aber die Geschichte dieser Verkleidung ist zu lustig, um sie der schönen Welt in Nikomedien länger zu entziehen.« Er neigte sich und ging. Mich hatte Schaam, Zorn, und Erstaunen stumm gemacht. Erst als er entfernt war, vermochte ich den ganzen Umfang seiner Bosheit, und meine Gefahr einzusehen. Ich war außer mir. Ich wagte nicht mit meinem Vater zu sprechen, ich zitterte vor seiner gerechten Ahndung, und fürchtete zugleich, daß vielleicht irgend eine gewaltsame Maaßregel, die ihn die Sorge für die Ehre seiner Tochter ergreifen machen würde, das Uebel ärger machen könnte. Am Abend des folgenden Tages kam Quintus mit glühendem Gesicht und funkensprühenden Augen zu mir. Der Bösewicht Marcius hatte seine Drohung bereits ausgeführt, und in einer lustigen Gesellschaft seiner Zechbrüder meine Geschichte, meinen und[43] Agathokles Namen preisgegeben. Einer von den Gästen hatte es unter dem Scheine des Zweifels, und als ein unglaubliches Mährchen meinem Bruder erzählt. Ich brachte die Nacht in einem qualvollen Zustande zu, nicht besser war der folgende Tag. Ich zitterte, so oft Jemand eintrat, so oft man meinem Vater einen Besuch meldete, daß jetzt wieder die unselige Geschichte erwähnt werden würde.

Plötzlich am dritten Tage war Marcius aus Nikomedien verschwunden, doch nicht ohne vorher seine vorige Erzählung als einen Scherz, dessen Veranlassung eigentlich eine tolle Wette unter ihm und einem seiner Freunde gewesen wäre, ernstlich und feierlich widerrufen zu haben. So war das Gewitter diesmal vorübergegangen, und ich konnte nicht begreifen, wie? bis ein Paar Tage darauf Quintus durch denselben Centurio, der ihm die Geschichte zuerst erzählt hatte, erfuhr, daß Agathokles in größter Eile von Synthium gekommen, und bei Marcius abgestiegen war, daß man sie sehr lebhaft streiten gehört habe, daß Marcius sogleich seine Pferde zu satteln, und den Sclaven, sich reisefertig zu machen, befohlen habe, und noch denselben Abend, wenige Stunden nach Agathokles, der sogleich wieder auf seine Villa zurückgekehrt war, die Stadt verlassen habe.

So war denn die Rettung meines guten Namens Agathokles Werk, so bin ich ihm dafür verpflichtet! Und er äußert nichts gegen mich, er entzieht sich meinem Dank, er weiß vielleicht gar nicht, daß mir die ganze Sache bekannt ist. O mein Lucius! Ist es möglich, dies zu denken, ein fühlendes Herz, und einst so lachende Hoffnungen[44] gehabt zu haben, und jetzt ruhig oder kalt zu seyn? Was wird noch aus mir werden?

Ein Entschluß steht fest in meiner Seele. Wenn mein Schicksal fortfährt, Qual auf Qual, Beschämung auf Beschämung über mich zu häufen, so will ich seinen Launen weichen, ich will den Ort verlassen, an den ich unter so unglücklichen Vorbedeutungen gekommen bin, und meinen Vater bitten, daß er mich nach Rom zu dir und meiner Tante Sempronia zurückschicke. Hier kann ich es nicht länger aushalten.

Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 35, Stuttgart 1828, S. 39-45.
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