Wiegenlied einer polnischen Mutter

[157] (7. November 1831.)


Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,

Warum du weinst;

Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz

Dich lehren einst.


Schlaf ein, o Herz, was kümmert dich

Der Feinde Sieg?

Dein Vater fiel für dich und mich

Im Heldenkrieg.


Dich wird erziehn dereinst der Zar

Zur Sklaverei:

Doch als ich dich, o Kind, gebar,

War Polen frei.


O weh des Fluchs, der, teures Land,

Dich jetzt ergreift!

Es wird bereits durch Polenhand

Die Stadt geschleift.


Mit Schaufeln naht dem Wall sich schon

Der Männer Gang;

Sie murmeln sacht, mit halbem Ton

Den Rachgesang.


O großer Gott, mißhöre nicht

Den leisen Chor,

Und rufe laut vor dein Gericht

Den Würger vor!


Es zehre Krieg und Pestilenz

An seinem Reich,

Ihm scheine freudenlos der Lenz,

Die Rose bleich!


Das eigne Weib gewähre nie

Ihm sein Gesuch,

Und aus dem Bett verjage sie

Der Blutgeruch!
[158]

Und wenn sich je sein falscher Mund

Verzieht und lacht,

Tu ihm der Geist die Waisen kund,

Die er gemacht!


Und träumt er sich ein leichtes Ziel

Auf Glatter Bahn,

So denk er, wie sein Vater fiel

Und wie sein Ahn!


Und stirbt er auch, empfind er doch

Der Hölle Graus:

Meineidigen wächst der Finger noch

Zum Grab heraus.


Was wir begehrten, war ja nur,

Was uns gehört,

Was jener Mann sogar beschwur,

Der uns zerstört.


Gott gab, so rühmt er, ihm das Reich,

Das kühn er lenkt;

Oh, hätte Gott ihm auch zugleich

Ein Herz geschenkt!


Und du, o Säugling, atme leis

Im Schoß der Schmach,

Ahm aber einst im Männerkreis

Dem Vater nach!


Du werdest noch der Stolz der Fraun,

Des Landes Zier,

Um einst die Tatzen abzuhaun

Dem Tigertier!


Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,

Warum du weinst;

Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz

Dich lehren einst!

Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 157-159.
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