Fünftes Kapitel.

[42] Als Rosensohn an die Grenze des benachbarten Reiches kam, fragte er nach dem Weg zu der Hauptstadt. Den ganzen Tag ging er fort, und des Nachts schlief er unter einem Olivenbaume. Im Traume aber sah er die Prinzessin Lilla, gar herrlich anzuschauen und lauter Liebreiz. Durch ihre Locken war eine Krone geflochten, der Schleier war zurückgeschlagen. Ihre Hand aber hielt einen Kranz, und ihr Mund lächelte mit unaussprechlicher Anmut. Da raffte er sich vom Schlafe auf, voll Sehnsucht, und in der siebenten Stunde des Morgens stand er am Stadttore. Als er aber einen großen Zusammenlauf von Menschen sah, fragte er nach der Ursache, und einer erzählte ihm denn, daß eine Menge Prinzen und Ritter versammelt wären, um den Besitz der Prinzessin Lilla zu streiten. Der Trieb des Kampfes entflammte auch ihn, und als er an die Schranken kam, siehe da saß die Prinzessin Lilla auf einem Balkon, gar herrlich anzuschauen und lauter Liebreiz. Durch ihre Locken war eine Krone geflochten, der Schleier war zurückgeschlagen. Ihre Hand aber hielt einen Kranz, und ihr Mund lächelte mit unaussprechlicher Anmut.

Da trat denn auch er bescheidentlich in die Schranken, und alle Prinzen besiegte er und alle Ritter, und das Auge der Prinzessin ruhte züchtiglich auf seiner Gestalt. Und der König sagte ihm: »Ihr habt meine Tochter erkämpft, geht aber hinauf[42] und fragt sie um ihre Beistimmung.« Da ging er denn mit klopfendem Herzen hinauf, und als er in den Saal trat, kam ihm Lilla entgegen und setzte ihm den Kranz auf. Er aber warf sich zu ihren Füßen und faßte ihre holdselige Lilienhand, die er inbrünstig mit seinen Lippen berührte. Sie hob ihn huldreich auf, und ließ ihre Frauen abtreten und begann mit verschämten Worten: »Meine Hand habt Ihr gewonnen durch Hiebeswaffen, durch Liebeswaffen mein Herz. Doch darf ich Euch nicht begrüßen als Bräutigam. Setzt Euch und hört, was es damit für eine Bewandtnis hat.«

Quelle:
August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1910], S. 42-43.
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