Eroberer Wurm

O schaut, es ist festliche Nacht

Inmitten einsam letzter Tage!

Ein Engelchor, schluchzend, in Flügelpracht

Und Schleierflor sieht zage

Im Schauspielhaus ein Schauspiel an

Von Hoffnung, Angst und Plage,

Derweil das Orchester dann und wann

Musik haucht: Sphärenklage.


Schauspieler, Gottes Ebenbilder,

Murmeln und brummeln dumpf

Und hasten planlos, immer wilder,

Sind Puppen nur und folgen stumpf

Gewaltigen düsteren Dingen,

Die umziehn ohne Form und Rumpf

Und dunkles Weh aus Kondorschwingen

Schlagen voll Triumph.


Dies närrische Drama! – O fürwahr,

Nie wird's vergessen werden,

Nie sein Phantom, verfolgt für immerdar

Von wilder Rotte rasenden Gebärden,

Verfolgt umsonst – zum alten Fleck

Kehrt stets der Kreislauf neu zurück –

Und nie die Tollheit, die Sünde, der Schreck

Und das Grausen: die Seele vom Stück.


Doch sieh, in die mimende Runde

Drängt schleichend ein blutrot Ding

Hervor aus ödem Hintergrunde

Der Bühne – ein blutrot Ding.[111]

Es windet sich! – windet sich in die Bahn

Der Mimen, die Angst schon tötet;

Die Engel schluchzen, da Wurmes Zahn

In Menschenblut sich rötet.


Aus – aus sind die Lichter – alle aus!

Vor jede zuckende Gestalt

Der Vorhang fällt mit Wetterbraus:

Ein Leichentuch finster und kalt.

Die Engel schlagen die Schleier zurück,

Sind erbleicht und entschweben in Sturm,

»Mensch« nennen sich sie das tragische Stück,

Seinen Helden »Eroberer Wurm«.

Quelle:
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 1: Gedichte, Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922], S. 109-112.
Lizenz:
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