Vorwort des Verfassers

Die Abenteuer des Chevalier des Grieux hätte ich auch in meine »Erinnerungen und Erlebnisse eines Mannes von Stande« einreihen können. Da sie aber keine notwendigen Beziehungen dazu haben, glaubte ich doch, daß der Leser sie mit größerer Befriedigung als gesondertes Werk aufnehmen würde. Eine so ausgedehnte Erzählung hätte den Faden meiner eigenen Geschichte zu lange unterbrochen, und obgleich ich mich durchaus nicht für einen peinlich genauen Schriftsteller ausgebe, so weiß ich doch, daß eine Erzählung von allen Zugaben frei sein muß, die sie schwerfällig und verwickelt machen. Wie es ja auch Horaz sagt:


Ut jam nunc dicat jam nunc debentia dici,

Pleraque differat, ac praesens in tempus omittat.1
[15]

Man braucht sogar noch nicht einmal eine so gewichtige Autorität heranzuziehen, um eine so einfache Wahrheit zu beweisen, denn der gesunde menschliche Verstand verlangt die Befolgung dieser Regel.

Wenn das Publikum meine Lebensgeschichte mit Genuß und Anteilnahme aufgenommen hat, so wage ich es ihm zu versprechen, daß ihm die neue Gabe nicht minder gefallen wird. Man wird in dem Geschick des Herrn des Grieux ein erschreckendes Beispiel für die Gewalt der Leidenschaften finden. Ich schildere hier einen verblendeten jungen Mann, der seinem eigenen Glück aus dem Wege geht und sich freiwillig in das ärgste Unglück stürzt; der bei allen Gaben, durch die sonst eine glänzende Laufbahn verbürgt wird, doch zugunsten eines ruhmlosen und unsteten Lebens auf alle Vorteile des Reichtums und der Geburt verzichtet; der sein widriges Geschick kommen sieht und ihm doch nicht ausweichen will; der davon gequält und bedrückt wird und doch die Heilmittel verschmäht, die man ihm immer wieder anbietet, und die sein Unglück in jedem Augenblick beenden könnten; kurz einen zwiespältigen Charakter, eine Mischung von Tugenden und Lastern, einen ewigen Gegensatz von guten Vorsätzen und schlechten Handlungen. Alles dieses liegt der gegenwärtigen Schilderung zugrunde. Verständige Menschen werden ein Werk von solcher Art nicht als eine unnütze Arbeit ansehen. Ganz abgesehen von dem Vergnügen einer angenehmen Lektüre, wird man hier[16] wenige Ereignisse finden, die nicht einer sittlichen Belehrung dienen könnten, und meiner Meinung nach erweist man dem Publikum einen beträchtlichen Dienst, wenn man es belehrt, indem man es unterhält.

Man kann nicht über die Vorschriften der Moral nachdenken, ohne mit Verwunderung zu bemerken, daß sie zu gleicher Zeit geschätzt und mißachtet werden, und man fragt sich, warum das menschliche Herz doch so seltsam ist, die Ideen des Guten und Vollkommenen zu lieben, um im wirklichen Leben ihnen aus dem Wege zu gehen. Wenn Menschen von einer gewissen Bildung und Kultur doch einmal prüfen wollten, womit sie sich am meisten in ihren Unterhaltungen oder auch in ihren einsamen Träumereien beschäftigen, so werden sie ohne weiteres bemerken, daß es fast immer moralische Betrachtungen sind. Es sind die köstlichsten Augenblicke ihres Lebens, wenn sie sich allein oder in Gesellschaft eines Freundes mit offenem Herzen unterhalten über den Zauber der Tugend, die Süßigkeit der Freundschaft, die Wege zum Glück, die Schwächen der Natur, die uns davon entfernen, und die Mittel, die diese Schwächen heilen können. Horaz und Boileau heben, wenn sie das Bild eines glücklichen Lebens entwerfen, eine solche Unterhaltung als einen der schönsten Züge hervor. Woher kommt es dann aber, daß man so leicht von der Höhe solcher Ideen hinabsinkt, bis man sich auf dem Niveau des Alltagsmenschen befindet? Ich glaube mich nicht zu[17] täuschen, wenn ich diesen Widerspruch zwischen unseren Ideen und unserer Lebensführung folgendermaßen erkläre: Die Vorschriften der Moral sind sehr unbestimmt und allgemein gehaltene Grundsätze, die man nur mit großer Schwierigkeit auf die besonderen Einzelheiten unserer Sitten und Handlungen anwenden kann.

Machen wir uns die Sache an einem Beispiel klar. Gut veranlagte Seelen fühlen, daß Milde und Menschenfreundlichkeit schätzenswerte Tugenden sind, und haben eine Neigung, sie auszuüben. Aber im Augenblick, da sie sie betätigen wollen, weichen sie unschlüssig zurück. Liegt hier auch wirklich ein Anlaß vor? Weiß ich, wieweit ich gehen soll? Täusche ich mich auch nicht über den Gegenstand?

Hundert Schwierigkeiten tun sich auf. Man möchte wohltätig und freigebig sein und fürchtet, betrogen zu werden. Man will nicht als Schwächling erscheinen, indem man zu weich und zu gefühlvoll ist. Mit einem Wort, man schwankt zwischen den Empfindungen, die Pflichten, die in den allgemeinen Begriffen der Menschlichkeit und Güte nur dunkel zum Ausdruck gebracht werden, entweder in übertriebenem Maße oder gar nicht auszuüben. In dieser Ungewißheit vermögen nur Erfahrung oder Beispiel den Trieb des Herzens vernünftig zu regeln. Aber die Erfahrung ist kein Vorzug, den sich jedermann, wie er will, verschaffen kann. Sie hängt von den verschiedenartigen[18] Verhältnissen ab, in die uns das Schicksal versetzt. Es bleibt also nur das Beispiel übrig, das der Mehrzahl der Menschen bei der Pflege der Tugend als Richtschnur dienen kann.

Grade für Leser von dieser Art nun können Bücher wie das vorliegende von äußerstem Nutzen sein, wenigstens wenn sie von einem ehrlichen und vernünftigen Menschen geschrieben sind. Jede Tatsache, die man berichtet, ist eine Stufe zur Einsicht, eine Unterweisung, die der eigenen Erfahrung hilft. Jedes Abenteuer ist Vorbild, nach dem man sich richten kann, denn es braucht nur den Umständen, in denen man sich befindet, angepaßt zu werden. So ist dieses ganze Werk eine moralische Abhandlung, die in unterhaltsame Übungen zerfällt.

Vielleicht wird ein sittenstrenger Leser daran Anstoß nehmen, daß ich in meinem Alter noch einmal die Feder zur Hand nahm, um über Abenteuer und Liebesereignisse zu schreiben; aber wenn die Erwägung, die ich soeben gemacht habe, begründet war, so bin ich gerechtfertigt. War sie falsch, dann diene es mir zur Entschuldigung, daß ich mich geirrt habe.[19]

1

... daß man immer wisse, was

zu sagen ist, doch vieles, was sich auch

noch sagen ließe, jetzt zurückbehalte

und für den Platz, wo man's bedarf, verspare.

(Übersetzung von Cristoph Martin Wieland.)

Quelle:
Prévost d' Exilles, Antoine: Geschichte der Manon Lescaut und des Chevalier des Grieux. Berlin [o. J.], S. 15-20.
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