Nr. 185. Vieh bedauern.

[181] Wenn man ein Vieh beim Schlachten bedauert, so hat es langes Leben, giebt wenig Blut und sein Fleisch ist den Menschen schädlich, so daß sie dann auch daran sterben müssen. Einmal war ein Mann und eine Frau, die hatten so eine ganz große Kuh, und das liebe Tier war so schön bunt und hatte euch einen ordentlichen Stern vor ihrem Kopfe und eine so schöne große Zitze, und da saß so viele süße Milch drin. Nun ging die Kuh einmal über einen großen schmalen Steg, da fiel sie herab und brach ein Bein. Mit vieler Mühe wurde sie wieder zu den Leuten ins Haus gebracht, denen sie gehörete, und da sollte sie geschlachtet werden. Als der Schlächter kam, bedauerte nun der Mann die Kuh so sehr, daß sie erst vom hundertsten Schlage vor den Kopf in die Kniee sank. Der Mann aber heulete immer zu, und als der Kuh schon das Fell abgezogen war, stand sie noch einmal auf und ging auf der Diele umher. Jetzt sagte der Hirt, das Fleisch sei nicht zu genießen, es würde dem den Tod bringen, der es äße. Da mußte zum Schinder geschicket werden, und als der die Kuh auf den Schindanger hinausschleifte, heulte und jammerte der Mann erst recht. Da tröstete ihn die Frau, wie sie dem Schinderkarren nachsah, und weil sie auch nicht mit Verstande sehr gesegnet war, so sagte sie: »Sei doch nur ruhig, den Weg, den unsere Kuh jetzt gehet, müssen wir ja alle einmal gehen!«

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 181-182.
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