Roland.

[178] Daß Roland als Deutscher zu betrachten sei, ist oft behauptet worden. Er soll nicht in dem französischen Angers, sondern in Engers auf dem rechten Rheinufer zwischen Koblenz und Neuwied zu Hause gewesen sein. Am Rheine ist es also nicht bloß Rolandseck, welches zu ihm in Beziehung gesetzt wird. Damit wir hier sein Ende schildern können, halten wir uns am besten an jenes Rolandslied, das 1066 Taillefer hoch zu Rosse den britischen Truppen vor der Schlacht bei Hastings vorgesungen hat, um sie zum Kampfe zu begeistern. Es erzählt Folgendes:

Der Aufbruch des Heeres unter Anführung Karls des Großen nach Osten hin versetzte alle Franken in Aufregung. Unterwegs gedachten die Ritter zwar freudig ihrer Lehen und ihres Erbes, der ungeduldig harrenden Braut und der liebenden Hausfrau. Aber König Karl gab sich trüben Gedanken hin, weil er seinen Neffen Roland in den Engpässen der Pyrenäen zurückgelassen hatte.

Ganelon war zum Verräter geworden, hatte die Geschenke des Heidenkönigs an Gold und Silber, an morgenländischen Stoffen und Pelzen, an Pferden und Maultieren, an Trampeltieren und Löwen empfangen. Dann hatte er König Karl bewogen, den kühnen Roland mit so wenigen Truppen zurückzulassen, daß er die Ungläubigen nicht mit ihnen besiegen konnte.[179]

Der Heidenkönig hatte zu den Waffen Barone und Grafen, Burggrafen und Herzöge gerufen. Binnen vier Tagen hatten sich um ihn 400000 Männer geschart. Zu Saragossa wirbelten die Trommeln, und vom höchsten Turme herab wehte die Fahne des Propheten. Es war keiner unter den Heiden, der nicht mit Ehrfurcht zu ihr aufblickte. Von Kampflust ergriffen, drängten sich die Ungläubigen zwischen den Bergen von Ronceval. Als sie aber das Panier der Franken, den kleinen Nachzug, von Roland und elf andern geführt, erblickten, verlangten sie ungeduldig zu streiten.

Schön ging die Sonne auf, hell leuchtete der Tag, und weithin schimmerten die Rüstungen. Der Anführer der Sarazenen ließ durch tausende von Schalmeien seinen Auszug verkündigen. Die Franken vernahmen den Höllenlärm, und Olivier sprach zu Roland: »Herr Kumpan, mich dünkt, wir könnten wohl zum Schlagen kommen mit den Sarazenen.« Roland erwiderte: »Das wolle Gott uns bescheren. Fest müssen wir hier für unseren König stehen. Ein jeder ist verpflichtet, in seines Herrn Dienste der Hitze, der Kälte und der Gefahr zu trotzen. Wir wollen schwere Hiebe austeilen, auf daß nicht ein Lied uns zum Schimpfe gesungen werde. Auf der Seite der Heiden ist das Unrecht, auf unserer das Recht. Von mir soll nie ein böses Beispiel ausgehen.«

Olivier bestieg einen Hügel und überschaute das Wiesenthal zu seiner Rechten, welches von Heiden wimmelte. Er rief seinem Kumpan Roland zu: »Von Spanien her wälzt sich klirrend ein Schwarm uns entgegen. Ich sehe die weißen Turbane und die blanken Helme. Hart wird es uns Franken ergehen. Das wußte Ganelon nur zu gut, als er uns in des Kaisers Gegenwart diesen Posten anwies.« Roland tadelte diese Rede, weil Ganelon sein Schwiegervater sei. Indem aber Olivier nun von dem Hügel herunterkam, trat er vor die Franken hin und erzählte ihnen allen: »Ich habe die Heiden gesehen, in solcher Anzahl sind sie niemalen einem Christenmenschen vorgekommen. Edle Herren, setzet Eure Zuversicht auf Gott und stehet fest, auf daß Ihr nicht besieget werdet.«

Zu Roland sprach jetzt Olivier: »Kumpan, stoßet in Euer Horn, Kaiser Karl wird den Ruf hören, das Heer wenden und uns bei Zeiten zu Hülfe kommen.«[180]

»Das wäre die Handlung eines Thoren,« erwiderte Roland, »sie würde meinen Ruhm im Frankenlande verderben.« Aber Olivier wiederholte die Bitte: »Kumpan,« sagte er zu Roland, »Kumpan, laßt Euer Elfenbein ertönen. Kaiser Karl wird seinen Ton vernehmen; ich bürge dafür, daß er sogleich mit seinem ganzen Heere zurückkommt.« Roland entgegnete: »Da sei Gott vor, daß irgend jemand auf Erden erzählen könnte, ich hätte der Heiden wegen mein Horn angesetzt.« Aber Olivier hub wieder an: »Seht Ihr sie, wie nah sie uns sind? – ferne ist Kaiser Karl. Fürwahr, wenn er zur Stelle wäre, so brauchten wir uns vor keinem Schaden zu fürchten.«

»Laßt die Thorheiten!« rief Roland dazwischen; »wehe dem, der in seinem Herzen verzagt.«

Roland rief nun von allen Seiten die Franken herbei. Da sprengte auch der Erzbischof Turpin heran, der redete von einer Anhöhe herab also zu den Franken: »Edle Herren, diesen Posten hat uns Kaiser Karl zugeteilt. So seid denn auch bereit, für ihn zu sterben und erzeiget Euch als die Stützen der Christenheit. Die Sarazenen habet Ihr vor Euch, und eine Schlacht steht bevor. Erkennet Eure Sünden, Eure Seelen werde ich lossprechen. Wenn Ihr fallet, so werdet Ihr den heiligen Märtyrern zugezählt, und die besten Plätze im Paradiese erwarten Euch.«

Es wurde abgesessen, und dann knieeten sie nieder. Lächelnd erhebt Roland seinen Speer, aber ergrimmt ist sein Gesicht, als er auf die Sarazenen schaut. Dann wieder mustert er in milder Teilnahme die Franken und spricht: »Edle Herren, geht langsam und ruhig vor! Das ungestüme Andrängen der Heiden läßt nicht erwarten, daß Ihr ein Blutbad unter ihnen anrichten könnet. Niemals haben die Franken einen Herrn gehabt, wie König Karl.«

Da begann der Kampf. Die blutigen und zerbrochenen Lanzen, die zerrissenen Paniere und Fahnen – wer kann sie zählen? Roland und Olivier wüteten schrecklich unter den Sarazenen. Aber auch viele Franken mußten sterben in der Blüte ihrer Jahre, fern von ihren Müttern und Frauen und auch weit ab von ihren Waffenbrüdern, die bei König Karl waren. Die Natur im ganzen Frankenreiche erbebte durch Ungewitter, Regengüsse, Hagel und Sturmwind in ungewöhnlichen Zuckungen. Der Erdboden[181] öffnete sich an mehreren Stellen, strichweise fielen von selbst die Mauern; in vielen Orten zündete der Blitz, und manche sprachen: »Das ist das Ende aller Zeiten!« Aber alle diese Krämpfe der Schöpfung galten nur dem sterbenden Roland.

Viermal hatte das Treffen trotz der Überzahl der Sarazenen eine für die Christen glückliche Wendung genommen. Aber allzusehr fluchte Mahomet den Franken, und das fünfte Mal wurde die Schlacht diesen schrecklich und schwer. Nur sechzig fränkische Ritter hat Gott noch verschont.

»Schöner Ritter!« rief Roland seinen Kumpan Olivier an: »Siehst Du die vielen edlen fränkischen Kämpfer, deren Leiber den Boden bedecken? Wie mögen wir genugsam das schöne, süße Frankenland beklagen! Mein König Karl, mein Freund, warum bist Du nicht hier? Bruder Olivier, was sollen wir beginnen? Wie vermelden wir ihm unsere Lage? Ich will noch in mein Elfenbein stoßen, den Schall wird Karl vernehmen und seine Franken uns zuführen.«

Olivier meinte: »Als ich Euch darum bat, wolltet Ihr nicht blasen. Nun, da Ihr am ganzen Körper blutet, seid Ihr zu schwach dazu. Ich zürne Euch, denn Ihr habt Böses angerichtet, weil Ihr nicht blieset, so lange Ihr noch blasen konntet. Das vergebe ich Euch nicht, wenn Ihr auch der Bräutigam meiner Schwester Alda seid. Bei meinem Barte, sofern ich meine Schwester Alda wiedersehen könnte, nimmermehr solltet Ihr in ihren Armen ruhen.«

»Um Gotteswillen keinen Streit!« rief der Erzbischof Turpin dazwischen, indem er seinem Rosse die goldenen Sporen gab, um schneller bei ihnen zu sein. »Das Beste, was uns noch begegnen könnte, wäre des Königs rasches Eintreffen, damit er nach unserem Tode schnelle Rache an den Ungläubigen nehme. Wölfen, Säuen und Hunden sollen unsere Leiber nicht zur Speise dienen. Wenn die Franken kommen und unsere zerstückten Leichen gewahren, dann werden sie absitzen, die Särge der Gefallenen auf Saumtiere laden und die Leichen innerhalb ihrer herrlichen Kirchen und Dome bestatten.«

»Wohl gesprochen, Herr!« ruft der blutende Roland aus, führt sein Elfenbein zum Munde, hält es fest in der blutigen Hand und bietet alle seine Kräfte auf zum Blasen.[182]

Hoch sind die Berge, weit ist die Entfernung, doch dreißig Stunden weit wird der Schall vernommen, von Karl und allen seinen Gefährten gehört.

»Ach!« spricht der König, »unsere Leute fechten!«

Aber helles Blut war Rolands Munde beim Blasen entströmt, und seine Schläfen hatten zerspringen wollen.

König Karl sprach weiter: »Das ist Rolands Horn, das bläst er niemals, es sei denn im Kampfe.«

Allein der falsche Ganelon sagte: »Auf der Jagd wird Roland wohl in sein Horn tuten um eines Hasen willen. Hat er nicht ganze Städte gegen Euren Willen für Euch erobert? Aber ihm laßt Ihr Alles hingehen. Ihr seid alt, Herr König, und schwatzet da wie ein Kind. Setzet Eure Reise nach der Heimat fort und denkt nicht mehr an Roland.«

Allein nun blutete des Grafen Roland Mund, und jeder Ton, den er noch hervorrief, machte ihm die größten Schmerzen.

Herzog Naimo rief: »Ja, sie fechten! Zu den Waffen! Laßt uns umkehren und dem wackeren Nachtrabe zu Hülfe kommen! Ihr hört ja, wie Roland klagt!«

Der König Karl ließ die Pfeifer aufspielen, es waffneten sich die Franken mit dem Schwerte. Sie entfalteten die weißen, die roten und die blauen Paniere. Alle Barone schwangen sich in den Sattel, rissen ihre Rosse herum, daß die Mäuler nach Westen und die Roßschweife nach Osten standen, und trieben sie rastlos nach dem Thale von Ronceval zu. »Wenn wir nur Herrn Roland finden,« riefen sie aus, »welche Schwertstreiche wollen wir in seiner Gesellschaft austeilen!« Aber es war zu spät, sie hatten durch die Schuld des Verräters Ganelon zu lange gesäumt, auch hatte Roland wohl zu spät geblasen.

Als Roland das ungläubige Volk immer zahlreicher heranströmen sah, schwärzer wie Tinte, weiß allein an den Zähnen, da sprach er: »Jetzt weiß ich, daß wir heute des Todes sein werden. Haut drein, meine lieben Franken, haut zu mit den gut geschmiedeten Schwertern! Verkaufet Euer Leben und Euern Tod nur zum höchsten Preise! Durch uns soll die Ehre des Frankenreiches nicht geschändet werden. Wenn Karolus, mein König und Herr, zu dieser Wahlstatt kömmt, dann mag er das Blutbad schauen,[183] das wir angerichtet haben unter den Sarazenen. Möge er fünfzehn ihrer Toten zählen gegen einen der unseren! Dann wird er unser Andenken segnen, wenn er uns selbst auch nicht mehr findet.«

König Karl aber stürmte unablässig nach Westen. Er erreichte Ronceval und fand keinen Weg, keinen Pfad, keine Stelle, wo nicht Franken oder Heiden aufgeschichtet lagen.

»Wo sind sie geblieben, die ich hier zurückgelassen habe?« rief der König aus. »Wo ist Warin und sein Kumpan Gert? Wo ist Ivo und Iverich, die mir so lieb sind? Was wurde aus Engelhardt von Gascogne und dem Baron von Ansagis? Wo ist der alte Gerhardt von Roussillon, und wo sind die Zwölfe, denen niemand gleichet? O Roland, Roland, mein Freund, ich kehre in mein Reich zurück, und in der Pfalz werden mich die Fremden, selbst wenn sie aus dem Morgenlande zu mir kämen, fragen: Wo ist Roland der Graf, der Feldhauptmann? Dann muß ich antworten: er blieb in Spanien. Ich werde regieren von Trübsal umgeben, und jeder Tag wird meine Thränen um Roland sehen. Freund Roland, schöner, wackerer Neffe, wenn ich zu Aachen um Nachrichten gefragt werde, dann verkünde ich sie wunderbar und schreckhaft. Ich werde erzählen müssen: Mein Neffe, der so viele Siege für mich erfochten hat, ist gefallen. Und dann werden Sachsen, Ungarn, Bulgaren, Böhmen, Apulier, die von Palermo und die von Afrika sich gegen mich empören! Wer soll dann diesen Völkern meine Heere entgegenführen, da er tot ist, welchem sie zu folgen gewöhnet sind? O du Reich der Franken, wie bist du verwaiset!«

Dabei raufte er sich mit beiden Händen den weißen Bart aus, und ringsum flossen die Thränen der Franken wegen Roland.

Dann aber kehrte König Karolus heim nach Aachen, der vornehmsten aller Pfalzen des Reiches. Kaum war er vom Pferde gestiegen, da ging er hinauf in den Rittersaal und vor ihn trat Alda, die edle Jungfrau und fragte: »Wo bleibt Roland, der geschworen hat mich heimzuführen?«

Über diese Frage empfand König Karl tiefen Schmerz. »Liebe Freundin,« hob er an, »Du nennst einen Recken, welcher ebensowenig noch am Leben ist, als Dein Bruder Olivier. Du sollst für Roland einen andern Bräutigam haben, den besten, welchen ich weiß, meinen Sohn Ludwig, er[184] soll nun meine Marken schirmen und wird Dich heimführen.« Alda erwiderte: »Mit solchen Verheißungen mögt Ihr andere trösten! Mich verlangte mit Roland vermählt zu werden, und daß ich diesen überlebe, möge Gott mit seinen Engeln und Heiligen verhüten.«

Da überzog Totenblässe ihr Angesicht, sie sank zu Karls Füßen nieder und starb zur selbigen Stunde. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein!

Quelle:
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Berlin 1886, S. 178-185.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Rheinlands schönste Sagen und Geschichten
Rheinlands schönste Sagen und Geschichten

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Vögel. (Orinthes)

Die Vögel. (Orinthes)

Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon