322. Der Schneidermüller und die Venediger.

[123] Zwei Venediger kamen in Harzburg an ein kleines am Holze liegendes Häuschen und baten um ein Nachtlager. Der Mann erlaubte ihnen zu bleiben, gab ihnen Abendbrod und[123] führte sie am andern Morgen nach dem Brocken. Dort deckte der Eine an einer Stelle den Rasen auf, der Andre pflückte von gelben Blumen alle Knöpfe ab. Der Erste brachte nassen Grand aus der Höhle, der Andre hatte Feuer angemacht, den Grand und die gelben Knöpfe thaten sie in einen Tiegel und sie schmolzen Luffen (den groben Guß auf den hohen Öfen, der nachher erst in's Feine gearbeitet wird) davon. Der Mann bat sie auch um ein paar Stück, sie aber sagten, für dies Jahr wäre es zu spät, auf's Jahr würden sie ihn wieder abholen, dann solle er's ihnen sagen, ehe sie in die Grube stiegen. Darauf brachte er sie wieder nach Harzburg und sie blieben die Nacht wieder in seiner Wohnung. Abends war in seiner Stube mehrere Gesellschaft, darunter auch ein Säge- oder Schneidemüller, der oben im Hause wohnte. Es wurden mehrere Geschichten und »Märeken« von Gespenstern erzählt, der Sägemüller aber sagte: er fürchte sich vor gar nichts. Da sagte der eine Venediger: er solle mit ihm auf sein eignes Wohnzimmer gehn, wie er wisse, sei dort eine Fensterscheibe entzwei, da würde etwas hereinkommen, wo er sich so gut davor fürchte wie jeder andre Mann. Sie gingen beide hinauf, der Venediger setzte ihm einen Stuhl mitten- in die Stube und er selbst setzte sich vor den Tisch. Der Sägemüller sollte sich nicht rühren, nicht sprechen und nur auf die Fensterscheibe achten. Der Venediger fing nun an zu lesen und bald kam eine Art Schlangenkopf zu der Fensterscheibe herein, wurde immer länger und ging gerade auf den Schneidemüller los. Der Venediger las so lange, bis der Schlangenkopf ungefähr noch einen halben Fuß vom Gesichte des Schneidemüllers entfernt war. Da wollte der Schneidemüller fast in Ohnmacht fallen, der Venediger aber las die Schlange wieder zurück. Als sie ganz fort war, fragte er wieder: ob er nun noch sagte, daß er keine Furcht hätte. Der Schneidemüller sprach, daß er in seinem Leben nicht wieder so reden wolle und der Venediger sagte: er solle es am Wenigsten thun, wenn er in Gesellschaft fremder Menschen wäre, denn er wüßte manchmal nicht, was der eine oder der andre könne.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Unterharzische Sagen. Aschersleben 1856, S. 123-124.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Unterharzische Sagen
Unterharzische Sagen
Unterharzische Sagen: Mit Anmerkungen und Abhandlungen
Unterharzische Sagen: Mit Anmerkungen und Abhandlungen
Unterharzische Sagen: Mit Anmerkungen und Abhandlungen