Andacht

[309] Ich lebe, doch nicht ich,

Nein, der belebet mich,

Der alles Lebens Leben;

Mein Leben war sein Tod,

Und seine Todes-Noth

Muß mir das Leben geben.


Ich lebe, doch nicht mir,

Mein Wandel ist nicht hier;

Mich auff zu ihm zu heben

Sterb' ich mir täglich ab,

Dies ist das heilge Grab,

Darinn er gern mag leben.


Was Erd' und Welt an mir,

Das fällt und faulet hier,[309]

Was sein, steht unbeweget

Und wird gantz neu verklärt,

Wenn sich die Welt und Erd'

Eins in die Asche leget.


Denn zieh ich ihn wol an,

Wenn ich mich abgethan,

Sein Kleid und meines beyde,

Die einigen sich nicht.

Wie fügt sich Nacht und Licht,

Wie hären Tuch und Seide?


Ach Jesu, ich wil dein,

Nicht mein, gantz mein nicht seyn,

Sey du auch mein nicht minder;

Ich laße mich gantz dir,

Nimm mich und gib dich mir,

Tausch Gott mit einem Sünder.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 309-310.
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