Von der Wahrheit

[308] Euer Wort sey Ja und Nein,

Bindest du uns, Jesu, ein.

Ja sey ja, und nein sey nein,

Wenn doch dies so möchte seyn!


Nun sieht hierauff nicht die Welt,

Wer itzt nichts von Farben hält,

Und die Worte schminken kan,

Ist für unsre Zeit kein Mann.


Was ist Wahrheit, frug man dich,

Die in dir mit von uns wich.

Frag nun uns, o Bild der Treu,

Wo bey uns die Wahrheit sey.


Meere sind es, die man hört,

Da man auff dem Trucknen fehrt,

Berge, welche man verspricht,

Und man kriegt kein Sandkorn nicht.


Wolken, die am grösten sind,

Geben meist für Regen Wind;

Wer die reichsten Worte hat,

Ist der Ärmste mit der That.


Auff den schönsten Morgen-Schein

Fällt das schlechtste Wetter ein;

Wer sich erst so heilig stellt,

Ist, der selbst zuletzt uns fällt.
[308]

So thust du, mein Heyland, nicht;

Was dein süßer Mund verspricht,

Ist offt widrig, wie es scheint,

Und ist dennoch gut gemeint.


Wenig sagstu, schaffest viel,

Unser Nutzen ist dein Ziel,

Stellst dich feind und liebst dennoch,

Ja, versagst, und giebst es doch.


Liebster Bruder, treuster Freund,

Jesu, der es treuer meint,

Als kein Bruder oder Freund

Nimmer es auff Erden meint,


Laß mein Wort nur Ja und Nein,

Kurtz und desto wahrer seyn;

Rufft die Welt, so laß es Nein,

Ruffest du, ein Ja stets seyn.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 308-309.
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