Sterblied

[325] Galat. 2, 20.


Nach der Melodie: Ich bin ja, Herr, in deiner Macht.


Wie wohl wird jetzt, o Jesu, mir,

Was ist bisher mein Leben hier

Als ein betrübter Tod gewesen,

Der täglich mich in's Grab gesteckt

Und täglich wiederum erweckt?

Nun bin ich einmal recht genesen,

Da mich an meines Lebens Statt

Dein lieber Tod beseelet hat.


Nimm, wenn du willst, erwünschte Bahr',

Nimm hin, was an mir sterblich war;

Es kann mein Geist nicht ledig werden,

Wo nicht sein Kerker wird gefällt.

Was von der Welt, das sei der Welt,

Was von der Erden, sei der Erden;

Was himmlisch ist, mein bestes Theil,

Das hat im Himmel nur sein Heil.
[325]

Ach Jesu, dieses dank' ich dir!

Ich war auch dorten, gleich wie hier

Schon zu des Todes Beut' erlesen,

Mein Leben hatte dies verdient.

Wenn mich hier nicht dein Tod versühnt,

Was wär' ich für ein elend Wesen?

Für ewig in der Höllenpein

Ist besser, ewig Nichts zu sein.


Du aber, Vorbild aller Güt',

Hast ein liebseeliges Gemüth

Schon vor der Welt zu mir getragen,

Und nachmals, wie die Zeit erfüllt,

Dich in mein armes Fleisch verhüllt

Und deines ganzen Reichs entschlagen,

Daß mir dein Geist, dein Erb' und Recht

Zu deinen Gütern werden möcht'.


Du gabst dich, Liebster, hin für mich,

Entzogst mich mir und schenktst mir dich,

Ein Tausch, Herr, den ich nicht erkenne,

Daß Gott sich für mich Sünder giebt

Und mehr mich als sein Leben liebt.

Ach, wer dich auch so lieb gewönne,

Und dich so herzlich hielt' umfaßt,

Als du es, Herr, verdienet hast.


Mein Fleisch kann, Jesu, dieses nicht;

Käm' es hier an auf dessen Pflicht,

Das folgte seinen Augen leider.

Ich spare dies auf jene Zeit,

Ich weiß um meine Herrlichkeit,

Um meinen Kranz, um meine Kleider,

Die ich, gelobter Gottessohn,

Einst tragen soll vor deinem Thron.


Hierauf, mein Heiland, leb' ich dir,

Den Trost setzt sich mein Glaube für,

Es mag denn, wie es will, ergehen,[326]

Ich falle, wie und wann du willst.

Wenn du mich in dein Grab verhüllst,

So werd' ich auch mit dir entstehen

Und trennet mich kein Tod von dir,

Da du, mein Leben, lebst in mir.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 325-327.
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