Vom Leiden und Sterben Jesu Christi

[263] Ich komme, Jesu, her zu dir

Und bringe dir mein' Andacht für

Von deinem bittern Kreutz und Leiden;

Ich habe zwar es mit gemacht,

Daß du zum Tode bist gebracht,

Doch wirstu mich darum nicht meiden,

Weil selbst dein Tod die Ursach ist,

Daß du mein Freund geworden bist.


Ach Heyland, ja, viel mehr, als Freund!

Wer stirbet doch für seinen Feind,

Wer dient, der alle Welt regieret,

Wer wird ein Mensch, und ist doch Gott,

Wer liebet für den Himmel Spott,

Wer darbt, von dem das Brodt herrühret,

Thust du es, liebster Jesu, nicht,

Und das um fremder Sünde Pflicht?


Du selber weist von keiner Schuld,

Was du hie thust, ist lauter Huld,

Du zahlst, was ich verbrochen habe,

Du leidst, und das Verdienst ist mein,[263]

Ich solt' ein Kind des Todes seyn,

Und du gehst für mich hin zum Grabe,

Ja, läßest deinen Himmel stehn,

Da ich zur Höllen solte gehn.


Schau, blinder Jude, doch recht zu,

Wen speystu an, wen schlägest du?

Kanst du an deinem Heyl noch zweiffeln,

Ehrst du den Held aus Juda so,

Bist du um Zions Hülff so froh,

Must hierum nur der Himmel träuffeln,

Ist so dein König dir genehm,

Du Tochter von Jerusalem?


Muß ihm es denn ein Mörder nun

Zuvor in deiner Liebe thun,

Verdammstu den, der dich befreyet,

Urtheilstu dem das Leben ab,

Ohn den die gantze Welt ein Grab,

Und kreutzigst, der dich benedeyet?

Doch ach, was klag ich Ander' an,

Ich habe dieses selbst gethan.


Mein, mein ist alle Mißethat,

Die, Jesu, dich gemartert hat,

Ich fing dich erstlich zu verklagen,

Ich flochte dir die Dornen-Kron,

Ich sprach dir mehr als Alle Hohn,

Ich habe dich ans Kreutz geschlagen,

Drum denk', in was für Angst ich steh,

Indem ich auff dein Leiden seh.


Ach, ruff ich dir, mein Heyland, zu,

Ach, höchstes Leben, stirbest du,

Du A und O, kanst du dich enden,

Neigst du das Haupt, du Haupt der Welt,

Starrt dir die Hand, die Alles hält,

Kan dich, du Licht, der Tod auch blenden,[264]

Und fallen dir die Augen ein,

Die mehr als Mond und Sonne seyn?


Denn klag' ich, was hab ich gethan,

Wer nimmt sich nun doch meiner an,

Wenn Gott mich vor Gericht wird stellen?

Sein Kind, das mich hat loßgebürgt,

Sein einigs Kind hab' ich erwürgt;

Der Teuffel fordert mich zur Höllen,

Im Himmel ist mir Alles Feind

Und von der Erden gilt kein Freund.


Wo find' ich Trost in dieser Pein?

Du kanst allein mein Labsal seyn,

Du unvergleichlicher Erlöser;

Du batest selbst für deine Feind'

Und nahmst den Schächer an zum Freund,

Ach, sey doch gegen mich nicht böser.

Du sprichst, daß Alles vollenbracht,

Was ist denn, das mich traurig macht!


Trotz Höll' und Tod, trotz, Teuffel, dir,

Ihr habt fort keine Macht an mir,

Mein Jesus hat sich mein erbarmet;

Er beugt den Mund zu meinem ab

Und liebt den Kuß, den ich ihm gab,

Er hat mich und ich ihn umarmet;

Wenn ich mit dem vereinigt bin,

So hör' ich nach dem Himmel hin.


O liebster Bürge, höchster Freund,

Mein Bruder, der mit mir es meint,

Als nimmer kan ein Bruder meinen,

Hie steh' ich und beweine dich

Und will bey deinem Kreutze mich

Um deinen Tod zu Tode weinen,

Weil doch mein Leben nichtes ist,

Wenn du, mein Hertz, gestorben bist.
[265]

Die Welt ist mir, ich ihr nicht gut,

Mir eckelt Alles, was sie thut,

Und sie kan nichtes mehr, als schmähen,

Drum nimm mich nur mit dir ins Grab,

So sterb' ich meinen Sünden ab

Und werde sauber aufferstehen,

Komm so, mein Tod, und sey gegrüst,

Der mehr als tausend Leben ist.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 263-266.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon