Von der Liebe des Nechsten

[295] Was ist, daß du, o Mensch, dich stellst,

Als wenn du viel von Gott hie hälst

Und haßest dennoch deinen Nechsten?

So wenig Tag es sonder Licht,

Ein guter Baum ohn gute Frücht,

So wenig liebest du den Höchsten,

Wenn dein bedrückter Neben-Christ

Nicht solcher Liebe theilhafft ist.


Sonst magstu Alles thun und seyn,

Gib an die Armen All, was dein,

Sprich nach den hochberedten Engeln,

Dring selbst dich in das höchste Licht,

Hast du dabei die Liebe nicht,

So bistu reich an lauter Mängeln,

Ein tönend Ertz, ein leerer Schall,

Ein lauter Nichtes überall.
[295]

Sie ist es, die uns nach der Zeit

Hilfft bey der süßen Ewigkeit

Die ungeendte Zeit vertreiben,

Sie ist die Aehren-reiche Saat,

Die dort so herrlich Erndte hat,

Sie ist das Probstück, das wir schreiben,

Zu sehn, was unser Meister sey

Und ob wir ihm recht kommen bey.


Wir Alle sind von einer Hand

Und also von Natur verwandt;

Wer thut nicht Gutes seinem Blute?

Nur ein Bild ist uns eingeprägt,

Das unsern Schöpffer uns vorlegt,

Nur ein Bad kömmet uns zu Gute,

Das solches wieder sauber wäscht,

So weit es Adams Wust verlescht.


Nur ein Glaub' ist, der uns verbindt,

Nur ein Geist, welcher uns entzündt,

Ein Vater, unter dem wir Brüder,

Nur ein Brodt, ein Leib, den er schenkt,

Nur ein Wein, ein Blut, das uns tränkt,

Nur ein Haupt, unter dem wir Glieder,

Nur ein Reich kriegen wir dort ein:

Was wollen wir hie uneins seyn?


Gott liebet dich und darff nicht dein,

Sein Sohn hat so viel Angst und Pein

Aus Liebe bloß für dich ertragen,

Und fordert nichtes mehr von dir,

Als nur, daß du ihm Dank dafür

In seinen Freunden sollest sagen,

Und für zehn tausend Pfund und mehr

Nur hundert Groschen gebest her.


Thu, was du kanst; klagt wer sein Leid,

Der hungrig, kranck, ohn Hauß und Kleid,[296]

Da denk, als wenn Gott vor dir stehe

Und Zins von seinen Gütern nehm,

Und als wenn selbst dein Heyland käm',

Um Herberg dich und Kleider flehe,

Nach Speis' und Trank Verlangen trag'

Und dir von seiner Schwachheit sag'.


Ach, denk, wie du um dich bemüht,

Wie labt und quickt sich dein Geblüt,

Wie suchst und hegest du dir Freunde,

Wie baustu allen Nöthen für,

Wie deckstu deine Fehl' an dir,

Wie streitstu wider deine Feinde!

Selbst diese Gunst zu dir, die ist,

Die du dem Nechsten schuldig bist.


Erfülle, Jesu, mein Gemüth

Mit solcher ungeschminkten Güt.

Drey soll mit Lieb' ein Hertz verehren:

Dich erst, den Nechsten nach, und sich.

Ich theile meins für ihn und dich;

Nehmt Alles, ich will nichts begehren,

Denn wenn ich nichtes von mir halt,

So krieg' ich deines Bilds Gestalt.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 295-297.
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