Fünfte Stufe. Leben

[79] 1.

Erhab'nes, findet es erhab'ne Stimmung nicht,

Erscheinet lächerlich im Leben, im Gedicht.


2.

Bescheiden wollt' ich sein, säh' ich mich vollgeehrt,

Stolz muß ich sein, solang' ihr leugnet meinen Wert.


3.

Der Siegelring wird nicht in harten Stein sich drücken;

Herz, werde weiches Wachs, soll Gottes Bild dich schmücken.


4.

Wo es drei Heller thun, da wende vier nicht an,

Und nicht zwei Worte, wo's mit einem ist gethan.


5.

Wer zwingen will die Zeit, den wird sie selber zwingen;

Wer sie gewähren läßt, dem wird sie Rosen bringen.


6.

Du mußt auf Freundes Lieb' als wie auf Gottes trauen,

Sie fühlen innerlich, wo sie nicht ist zu schauen.


7.

Laß keinen, was er nicht kann halten, dir versprechen!

Was nützt es dir, wenn du ihn zwingst, den Eid zu brechen?


8.

Gar vieles lernt man, um es wieder zu vergessen;

Um an dem Ziel zu stehn, muß man die Bahn durchmessen.


9.

Man kann nicht immer, was man will; der ist mein Mann,

Der sich bescheidet das zu wollen, was er kann.


10.

In einer guten Eh' ist wohl das Haupt der Mann,

Jedoch das Herz das Weib, das er nicht missen kann.


11.

Die Nachtigall ist nicht zum Seh'n, ist nur zum Hören;

Den Dichter kennen, wird nur im Gedicht dich stören.
[80]

12.

Umsonst ist jedes Werk, das du hervorgebracht,

Wenn du dich selber nicht zum Kunstwerk hast gemacht.


13.

Als Ros' ist nie so schön geworden, wie zu werden

Als Knospe mir versprach ein Wunsch, ein Glück auf Erden.


14.

Zu denken ist wohl schön, noch schöner ist zu dichten,

Am schönsten beides miteinander zu verrichten.


15.

Am Walde hätte nicht die Axt so leichtes Spiel,

Hätt' ihr der Wald nicht selbst geliefert ihren Stiel.


16.

Wenn du für kleinre Gab' undankbar bist erschienen,

Womit denn hoffest du die größre zu verdienen?


17.

Dem sind am wenigsten die Mängel zu verzeihn,

Der, wenn er wollte nur, vollkommen könnte sein.


18.

Die Menschen sind zu klug, um irgendwen zu loben,

Eh' von was Gutem sie an ihm gesehn die Proben.


19.

Du klagst, daß mancher dir gelohnt mit Undank hab',

Und bist du dankbar Gott für alles, was er gab?


20.

Ich lobe mir den Mann, der das, was er nicht kann,

Nicht unternimmt, und das vollbringt, was er begann.


21.

Dem Manne steht, o Sohn, Mannhaftigkeit wohl an,

Dem Menschen Menschlichkeit; du werd' ein Mensch und Mann!


22.

Wenn Gott dich schlagen will, so braucht er nicht die Hand;

Er nimmt dir, daß du selbst dich schlagest, den Verstand.


23.

O brich den Faden nicht der Freundschaft rasch entzwei!

Wird er auch neu geknüpft, ein Knoten bleibt dabei.


24.

Ich hatte Zähne sonst, da hatt' ich Brocken nicht;

Den Brocken hab' ich nun, da mir der Zahn gebricht.


25.

Das Wort des Mannes ist von seiner Seel' ein Teil;

So wenig ist sein Wort als seine Seele feil.
[81]

26.

Das Leben ist ein Feu'r, die Luft muß es erquicken;

Sobald die Luft ihm fehlt, wird es in sich ersticken.


27.

Thu's, willst du Gutes thun, und frage kein Orakel;

Des edlen Mannes Herz ist Gottes Tabernakel.


28.

Im Blick des Bettlers ist die Bitte vorgetragen;

Verstehst du nicht den Blick, was soll der Mund dir sagen?


29.

Gemüt ist mehr als Geist, denn das Gemüt besteht

Als Wurzel, wenn der Geist wie Blütenduft vergeht.


30.

Zum Weinen muß das Herz sich auch mit Lust aufschließen;

Solang's der Schmerz verschließt, kann nicht die Thräne fließen.


31.

Dein eignes Leben selbst ist länger nicht dein eigen,

Sobald dein Herz du fühlst zu einem andern neigen.


32.

Spricht Unvernunft, was hilft's, daß da Vernunft sich zeige?

Wer unvernünftig nicht mitsprechen will, der schweige.


33.

So möcht' ich leben, daß ich hätte, wenn ich scheide,

Gelebet mir zur Lust und andern nicht zu Leide.


34.

Das Wort hat Zauberkraft, es bringt hervor die Sache;

Drum hüte dich, und nie ein Böses namhaft mache.


35.

Bescheidenheit, ein Schmuck des Manns, steht jedem fein,

Doch doppelt jenem, der Grund hätte, stolz zu sein.


36.

Was ist an Fluren schön? was schön ist auch am Leben:

Beschränkung reizende und Aussicht zum Erheben.


37.

Not ist die Wage, die des Freundes Wert erklärt,

Not ist der Prüfstein auch von deinem eignen Wert.


38.

Der Berg, der sich im Licht ewig zu sonnen glaubt,

Die Schatten wachsen doch ihm abends übers Haupt.


39.

Du mußt nicht auf den Leib zu nah' den Bergen gehn,

Sie sind im Duft der Fern' am schönsten anzusehn.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 79-82.
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