[Als Knabe war mein größtes Wohlbehagen]

[50] Als Knabe war mein größtes Wohlbehagen,

Ein Schwesterchen im Arm zu tragen,

Geflüchtet aus der engen Stub' hinaus,

Im weiten Garten hinterm Haus.


Doch hatte bald der Tod mein Wohlbehagen

Mir aus dem Arm zu Grab getragen,

Und in des Lebens Braus vergaß der Knab'

Das Schwesterchen im stillen Grab.


Doch hab' ich mit wehmüthigem Behagen,

Vom Zufall jüngst ins Dorf getragen,

Wo ich die Kinderjahre sah vergehn,

Nach ihrem Grab mich umgesehn.


Inzwischen hatt' ich größres Wohlbehagen,

Ein Töchterchen im Arm zu tragen,

Das, kommend still nach lauter Buben Troß,

Mein halbes Dutzend lieblich schloß.


Nun hat der finstre Störer im Behagen,

Der Tod, auch dies davon getragen,

Und an des Herzens leergewordnem Platz

Was ist zu hoffen für Ersatz?


Soll ich noch mit Großvaterwohlbehagen

Im Arm ein Enkelinnchen tragen?

Ich fürchte, der die Beiden hat geraubt,

Daß er das Dritte nicht erlaubt.
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Ich fürchte nicht, daß er mit Unbehagen

Das Enkelinnchen fort wird tragen;

Er selber wird zuvor mich führen ein

Zu Schwesterchen und Töchterlein.


Von Beiden welches werd' ich mit Behagen

Am liebsten dort im Arme tragen?

Ich fürchte, daß die Schwester und das Kind

Dort meinem Arm entwachsen sind.


Ob ich sie werd', ob sie mich werden kennen?

Wie ich sie werd' und sie mich nennen?

Ich denke, daß vorm großen Vater muß

Verstummen Vaterkindesgruß.


Doch wird der Schwesterbrudergruß noch gelten,

Und auch den Tausch werd' ich nicht schelten,

Wenn, die auf Erden meine Tochter war,

Sich dort mir stellt als Schwester dar.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 50-52.
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