[Daß im Krankenzimmer]

[89] Daß im Krankenzimmer

Bei den lieben Kleinen

Sie nun sieht den Vater

Seltener erscheinen,

Gilt der klugen Mutter

Für ein gutes Zeichen:

Krankheit und Besorgniß

Ist nun im Entweichen;

Weil vom Pult nicht jeder

Augenblick ihn treibet,

Daß er nur die Feder

Eintaucht und nicht schreibet.

Mit dem Vater sieht sie,

Daß der Arzt auch gleichen

Schritt hält, und zuletzt wird[89]

Mit dem Uebel weichen;

Weil er immer später

Kommt und kürzer bleibet,

Weniger besorgt thut,

Und nicht mehr verschreibet.

Dafür wird durchs Fenster

Nun dem Sonnenscheine

Nicht versagt der Eintritt,

Noch der Luft, der reinen.

Und hinaus vors Fenster

Wandern Arzeneien,

Und herein vom Speicher

Bessre Näschereien;

Statt des Queckentrankes

Und des Quittenschleimes,

Frisches Obst des Schrankes

Aufbewahrt-geheimes.

Und die Bäckchen selber,

Die noch waren bleicher

Als die Quitten, werden

Wieder apfelgleicher.

Rosen sollen ihnen

Blühn noch vor dem Maie,

Wenn das kleine Schwärmchen

Erst nur darf ins Freie.

Kirschen werden blühen

Und sogleich auch reifen,

Und die Kirschenvögel[90]

Werden wieder streifen

In den Kirschengarten,

Wohin sie die Steige

Noch vorm Jahr her kennen.

Daß ich's nicht verschweige,

Was beim ersten Ausflug

Auf die Schnabelweide

Ich am meisten fürchte,

Und im voraus leide!

Dort die Frau des Gärtners,

Die kennt all die Meinen;

Sieht sie mit geschmolznem

Häufchen mich erscheinen,

Wenn sie dann wird fragen:

Wo sind die zwei Kleinen?

Was soll ich d'rauf sagen,

Wenn ich nicht will weinen?

Von den Knaben allen

G'rade war der kleinste

Ihr ins Aug' gefallen

Als der allerfeinste.

Und das Mädchen gar

War die einzig feine,

D'rum schon, weil sie war

Unsre einzig Eine.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 89-91.
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