[ Ich hatt' im Haus zwei Bilder]

[289] [289] An Freund Barth


Ich hatt' im Haus zwei Bilder,

Die waren ganz gleich gethan,

Und eines sah immer milder

Mich als das andre an.


Jedes gefiel mir besser,

Das mir zuletzt erschien,

Das eine nur etwas blässer,

Das andere mehr Karmin.


Das eine war gemalet

Von dir nach dem Angesicht,

Das andere, das gestrahlet

Mein lebendes Freudenlicht.


Mir über'm Arbeitstische

Hing das eine gemalt,

Da hat es oft mir frische

Begeistrung ins Herz gestrahlt.


Und wenn ausreichen nicht immer

Mir wollte der blässere Glanz,

So ging ich ins Kinderzimmer

Und labt' am andern mich ganz.
[290]

Nun ist im Kinderzimmer

Erloschen jener Glanz,

Und halten muß ich am Schimmer

Hier überm Tisch mich ganz.


Das Bild hier, das mit jenem

Verglichen, das blässere war;

Wenn mich nicht täuschen die Thränen,

Färbt sichs nun heller gar.


Ja, wenn es aus soll reichen

Allein nun, so muß es auch.

Jenes gab im Erbleichen

Diesem den Lebenshauch.


Den Sieg hat davongetragen

Ueber Natur die Kunst;

Der Sieg ist zu beklagen,

Doch immer die schönste Gunst.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 289-291.
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