[Ich weiß nicht, ob es mich heute]

[347] Ich weiß nicht, ob es mich heute

Betrübte mehr oder freute,

Als ich ging durch die Kammer;

(Es war eine Freud' im Jammer)

Wo noch stehn aufgeschlagen

Die Bettchen, in welchen lagen

Die Beiden, die nun liegen

In übergrünten Wiegen.

Ohne dahin zu sehen,

Wollt ich vorübergehen.

Da traf mein Ohr ein Girren,

Ein sanftes Rauschen und Schwirren,

Und hin mußt ich mich wenden.

Da sah ich an den Enden

Der Bettlein (soll ich's glauben

Den Augen?) ein Paar Tauben,

Die sich in Eintracht wiegen,

Sich an einander schmiegen,

Und die Köpflein mit Schweigen

Gegen einander neigen,

Ganz wie einst jene thaten,

Die ich schwer muß entrathen.

Bild der Geschwisterliebe,

Bist du ein Schein, zerstiebe!

Doch lebet ihr und leibet,

So saget mir, und bleibet,[348]

Wo seid ihr her gekommen?

Doch ich hab' es vernommen:

Für die Küche gekaufet,

Seid ihr nur ungeraufet

Darum bisher geblieben,

Weil ihr Spiel mit euch trieben,

Und dieses Nest euch gaben

Die unbefangnen Knaben,

Und hier euch reichten Futter,

Mit halbem Willen der Mutter,

Hinschiebend von Tag zu Tage

Euere Niederlage.

Nun aber, dem Ort zu Ehren,

Will ich euch ganz abwehren

Das Messer von der Kehle

Mit Hausvaterbefehle.

Der heiligen Freistatt wegen

Sollen die Brüder euch pflegen

Stets mit dem reifsten Korne,

Und dem frischesten Borne,

Daß ihr tunket und picket,

Schlucket und euch erquicket,

Und danket mit Geflister

Wie ihre rechten Geschwister.

Sie sollen auch vor der Tatze

Der taubenmordenden Katze

Fein euere Schwelle hüten,

Bis ihr groß seid zum Brüten.[349]

Dann brütet hier, wenn ihr wollet;

Doch wenn ihr's wo anders sollet,

Und mögt nicht bei uns bleiben,

Dort durch die gebrochnen Scheiben

Entfliegt zum Himmelsbogen,

Wie jene uns einst entflogen.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 347-350.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kindertodtenlieder
Kindertodtenlieder
Kindertodtenlieder
Kindertodtenlieder und andere Texte des Jahres 1834

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon