[Vor deinen Augen hänget]

[202] Vor deinen Augen hänget

Ein Thränenflor,

Wodurch zum Frühlingshimmel

Du schaust empor.


Und weil du schaust so trübe

Den Himmel an,

Da kommt der Himmel selber

Dir trübe vor.


O wische nur vom Auge

Die Thrän' hinweg,

Und sieh, er ist so heiter

Als wie zuvor.


Es gehn die Welterleuchter

Bei Tag und Nacht

Mit ungeschwächtem Glanze

Wie sonst hervor.


Der Sonne thut mit Purpur

Die Pforten auf

Der Morgen, und der Abend

Mit Gold das Thor.
[203]

Und um die Silberstufen

Des Thrones hält

Des Mondes Blick geordnet

Den Sternenchor.


Sie lächeln deinen Schmerzen

Wie fremder Lust,

Und lassen jedem Sinne

Was er erkor.


Es athmet keine Wolken

In ihrem Glanz

Dein Seufzer, der vergebens

Den Tod beschwor.


Warum willst du verschwenden

Des Busens Hauch,

Der sich verliert mit Säuseln,

Wie Wind im Rohr?


Doch ist so reich an Seufzern

Wohl deine Brust;

Es ist nicht Schad' um einen,

Den sie verlor.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 202-204.
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