[Wenn ihr redlich es meinet]

[186] Wenn ihr redlich es meinet,

Alle Wässerlein, weinet!


Ihr von jeglicher Seite

Niederfließend im Thale,

Ihr so schmale wie breite,

Und so breite wie schmale,

Spielend im Sonnenstrahle!

Wenn ihr redlich es meinet,

Alle Wässerlein, weinet!


Wußte nicht, was zusammen

Ihr ergösset den Braus,

Gleich als stünd' es in Flammen,

Um dies einzelne Haus;

Jetzo weist es sich aus,

Und ich seh, was ihr meinet;

Alle Wässerlein weinet!
[186]

Dachte, daß ihr im Fließen

Wolltet drehen die Mühlen,

Und die Bleiche begießen,

Und die Blumen bespülen;

Anders laßt ihr mich fühlen

Nun, wozu ihr erscheinet;

Alle Wässerlein, weinet!


Alle, die ihr begossen,

Alle Blumen ersprießen,

Zwei nur werden nicht sprossen,

Wie ihr möget begießen.

Laßt's euch doch nicht verdrießen,

Meinen Augen vereinet,

Alle Wässerlein, weinet!


Aengstlich bebt' ich vor allen

Euern Brücken und Stegen,

Drein einst möchten sie fallen,

Denn sie sprangen verwegen.

Sorg' um euretwegen

Hat umsonst mich gepeinet;

Alle Wässerlein, weinet!


Ueber Brücken und Stege

Kamen stets sie zurücke,

Doch nun gehn sie die Wege

Uebern Strom ohne Brücke,

Dort, von wo vom Geschicke

Wiederkehr ist verneinet;

Alle Wässerlein, weinet!

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 186-187.
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