Die hohle Weide

[82] Der Morgentau verstreut im Thale

Sein blitzendes Geschmeide;

Da richtet sich im ersten Strahle

Empor am Bach die Weide.


Im Nachttau ließ sie niederhangen

Ihr grünendes Gefieder

Und hebt mit Hoffnung und Verlangen

Es nun im Frührot wieder.


Die Weide hat seit alten Tagen

So manchem Sturm getrutzet,

Ist immer wieder ausgeschlagen,

So oft man sie gestutzet.


Es hat sich in getrennte Glieder

Ihr hohler Stamm zerklüftet,

Und jedes Stämmchen hat sich wieder

Mit eigner Bork' umrüftet.


Sie weichen auseinander immer,

Und wer sie sieht, der schwöret,

Es haben diese Stämme nimmer

Zu einem Stamm gehöret.


Doch wie die Lüfte drüber rauschen,

So neigen mit Geflüster

Die Zweig' einander zu, und tauschen

Noch Grüße wie Geschwister;


Und wölben überm hohlen Kerne

Wohl gegen Sturmes Wüten

Ein Obdach, unter welchem gerne

Des Liedes Tauben brüten.


Soll ich, o Weide, dich beklagen,

Daß du den Kern vermissest,

Da jeden Frühling auszuschlagen

Du dennoch nie vergissest?
[83]

Du gleichest meinem Vaterlande,

Dem tief in sich gespaltnen,

Von einem tiefern Lebensbande

Zusammen doch gehaltnen.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 82-84.
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