Abschied

[262] Ihr Berg' und o ihr Thäler, hoch und tief,

Die ihr mir lange war't ein fremdes Land,

In welchem nie mein Herz die Heimat fand,

Die stets der Sehnsucht aus der Ferne rief!

Da endlich nun die Sehnsucht hier entschlief,

Da mir die neue Heimat hier entstand,

Wo mich umketten wollte trautes Band;

Euch reichen muß ich nun den Scheidebrief.

Ihr Berg' und o ihr Thäler, habt Ade!

Was ich hier fand, wo find' ich's wieder je?

Lebt wohl! ich sag' euch Lebewohl mit Weh.


Du sanftumbüschter Garten, süßer Ort,

Du hast ein Jahrlang mit vergeb'nen Müh'n

Dem aufgenommnen Fremdling wollen blühn

Und bliebst dem kranken Sinne stets verdorrt!

Und nun, da plötzlich durch ein Zauberwort

An allen Plätzen du mir wurdest grün,

Mir alle deine Rosen Funken sprühn, –

Das Schicksal ruft, und ich muß von dir fort.

Wie nun zur Hand den Wanderstab ich nahm,

Ist er so dürr wie damals, da ich kam;

Leb' wohl! dir sag' ich Lebewohl mit Gram.


O stiller See, bewegt vom Ruderklang

Des Schwanes, der die feuchten Kreise zieht

Um seine Insel, wo in Schilf und Ried[262]

Das Weib ihm sitzt und brütet! – o wie lang'

Belauscht', o Schwan, ich deinen Lebensgang,

Und meine Thräne mehrte dein Gebiet.

Ich sah im See ein Schattenbild, es flieht,

Du schweigst und hörest meinen Schwanensang.

O Wellen, die ihr meine Thränen seid,

Einst Spiegel meines Glücks und nun mein Neid,

Lebt wohl! ich sag' euch Lebewohl mit Leid.


O Stadt mit allen Häusern Dach an Dach,

Die ihr als Gast mich aufgenommen habt,

Die ihr zuerst mir nur ein Obdach gabt

Und keine Freud' im einsamen Gemach.

Da nun aus euerem Gestein ein Bach

Des Lebens ist entsprungen, der mich labt, –

Muß ich mich von euch wenden – o begrabt

In eurer Giebel Rauch mein letztes Ach!

Wie ich aus euch mich sehnte heimatwärts,

So wird nach euch sich sehnen nun mein Herz;

Lebt wohl! ihr seht mich von euch gehn mit Schmerz.


O Berg und Thal, o Garten, See und Stadt,

Ein Himmel mir, so weit als sich der Saum

Des Himmels dehnt! mir erst ein öder Raum,

Wo meine Seele nirgends wurde satt.

Nun sich das alles mir verwandelt hat

Und hier mir sproßt des Lebens grünster Baum;

Ist es zum Abschied mir als wie ein Traum, –

Daß ich davon mitnehme nicht ein Blatt.

O Stadt, o See, o Garten, Berg und Thal!

Vergold' euch schön der Morgensonne Strahl!

Lebt wohl! und laßt mich scheiden ohne Qual!


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 262-263.
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