Morgen-Abendstern

[268] Ich schaut' am Neujahrsabend

Zum Himmel aus und sah:

Im Westen stand so labend

Der Stern der Liebe da.

Ich blickt' am Neujahrsmorgen

Dann wieder auf, und sieh'!

Am Himmel wohlgeborgen

Stand er im Osten hie.


Du hast dich wohl betrogen,

Spricht ein gelehrter Mann;

Weil nie am Himmelsbogen

Geschehn dergleichen kann:

Es läßt der Stern entweder

Dort oder hier sich sehn,

Doch kann er nicht in jeder

Gestalt zugleich bestehn.


Das weiß ich selbst am besten,

Daß nie euch weisen Herrn

Zugleich in Ost und Westen

Erscheint der Liebe Stern.

Der aber, den ich meine,

Der steht an jedem Ort,

Und in viel hellerm Scheine

Als der am Himmel dort.
[268]

Der Stern, daß ich es sage,

Ein Stern ist solcher Art,

Wie ich im Busen trage

Die Liebe hoch und zart;

Der hat mich angefunkelt

Wohl zu des Jahres Schluß

Und strahlet unverdunkelt

Mir auch den Morgengruß.


Der Stern hat mir verheißen,

Daß bei des Himmels Dreh'n

Und bei der Jahre Kreisen

Er nie will untergehn;

Er will, wie eins sich neiget,

Stets funkeln hell und klar,

Und wie ein andres steiget,

Noch immer heller gar.


O sel'ge Doppelhelle

Von wunderbarem Schein,

An jedes Jahres Schwelle

Mir leuchtend aus und ein!

Nicht auf und nieder gehend,

Bald nah' und bald auch fern,

Nein, fest im Wechsel stehend,

Ein Morgenabendstern.


Wenn nun das ganze Leben

Verrollt ist wie ein Jahr,

Sollst du im Abend eben

Noch stehn so hell und klar;

Und wenn ein neuer Morgen

Aufdämmert aus der Nacht,

So grüß' mich wohlgeborgen

Zuerst in deiner Pracht.

Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 268-269.
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