Rosen auf das Grab einer edlen Frau

[219] Stuttgart, Juli 1816.


1.

Gehöret hab' ich, und ich kann es schauen,

An dieser Thränenstürme lautem Tosen,

Daß wohl die Vater- und die Mutterlosen,

Und die Gebrechlichen und Altergrauen


Sonst hatten eine Mutter an der Frauen,

Der sie zu Grab jetzt folgen – für Almosen,

Die sie von ihr empfingen jetzund Rosen

Aufs Grab ihr streun und Thränen drüber tauen.


Ihr sollt euch trösten! Auf dem Sterbebette

Hat sie noch ihrer Armen nicht vergessen. –

Wir alle, die wir ihren Heimgang ehren,


Sind Arme, die empfahn an dieser Stätte

Almosen, deren Wert nicht zu ermessen,

Davon die Herzen lang' noch können zehren.


2.

Der Anblick einer Seele, die in Frieden

Mit Gott, der Welt und sich des Amtes pflegte

Mit treuer Hand, das Gott in ihre legte,

Und als der Herr sie abrief von hienieden,


Ihm willig folgte, ruhig, ernst, entschieden;

Selbst noch, als sich um sie der Jammer regte[219]

Der Ihren, mit dem Troste, den sie hegte

In ihrer Brust, sie alle sprach zufrieden;


Der Anblick, der uns herrlicher und reiner

Erkennen läßt, daß über seiner Hülle

Der freie Geist besteht, der wandellose;


Das ist die große, hier wie sonst an keiner

Grabstätte je in also reicher Fülle,

An dieser uns gespendete Almose.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 219-220.
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