Einunddreißigstes Kapitel

[668] Man hoffte wieder einmal auf eine gute Ernte in Krodebeck; und hatte die besten Gründe für diese Hoffnung. Es war ein Jammer, daß es der Frau Adelheid von Lauen nicht mehr vergönnt war, den Segen zu sehen, welcher sich über ihre Felder hinbreitete und im lauen Sommerwinde regte – jegliche Ähre ein Wunder für alle, die Hunger hatten, und alle die, welche auf den Hunger anderer Leute hin Handel trieben und ein Vermögen erwerben wollten. Jeder Tag legte einen neuen Segen zu dem des vorigen. Der Administrator, Freund Fritz Fröschler, und sämtliche Gehülfen und Untergebenen desselben wuchsen hoch über ihre gediegensten Hoffnungen hinaus und hatten so etwas in ihrer ganzen Praxis noch nicht erlebt. Sie schrieben sich aber auch kein geringes Verdienst um die Herrlichkeit zu, und niemand war berufen, es ihnen abzusprechen.

Es war gute Nahrung und ein herzhaft Wohlbehagen bei allem niedersassischen Volk am nördlichen Rande des Harzgebirges; seit Menschengedenken hatte der alte Geisterberg, der Brocken, nicht solch ein treffliches Wetter angezeigt wie in diesem Jahre. Die Bauern von Krodebeck wurden zusehends dicker und würdiger, das heißt gröber. Es triefte wie Fett aus der Höhe, und selbst das liebe Vieh wurde glänzender und rundlicher darob von Tag zu Tage. Um so wehmütiger und betrüblicher war der Kontrast, welchen zwei Leute zu dieser erfrischten Gegend und zu diesen behaglichen Zuständen bildeten, und zwar zwei Bewohner des Lauenhofes, der Ritter Karl Eustachius von Glaubigern und die Inhaberin so vieler hohen Titel[668] und Würden, Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint Trouin. Die beiden waren weder jünger noch rundlicher, noch glänzender geworden; die beiden hatten keine Freude an der gediegenen Gegenwart und der lachenden Zukunft, und wer ihnen ins Gesicht sah, dem wurde es freilich schwer, den Glauben an die über alles sich erstreckende Güte Gottes sich unversehrt zu erhalten. Während ihre ganze Umgebung sich entweder verjüngt oder sich doch in einem recht befriedigenden Stillstand erhalten hatte, waren sie um vieles älter geworden und bedeuteten für sich allein eine Welt, aber eine gar traurige, in dem sie umgebenden Leben. Ohne die Frau Jane Warwolf hätte man sie vielleicht gar nicht mehr zu den Lebendigen gerechnet, und der alten Jane allein hatten sie es zu danken, wenn das noch des Dankes wert war, daß sie nicht ganz in ihrem Winkel verstaubten, mit Spinnweb überzogen wurden und zuletzt das Los des Spinnwebs in jeder Hinsicht teilten.

Wer hätte nach dem Tode der Frau Adelheid und jetzt, wo der Junker von Lauen in Wien auf der Hohen Schule des niedrigsten Lebens sich befand, noch großen Anteil an ihnen nehmen sollen?

Der Freund Fröschler, den wir selber kaum kennen?

Das Pastorenhaus? Der Pastorenfranz?

Ach, es war schon etwas für die beiden Greise, auf einer heißen grünen Gartenbank zu sitzen und ein dumpfes Gefühl des Dankes für die Treue und Teilnahme der Hundstagssonne zu haben! Was konnten die Menschen den beiden Alten noch bieten, was besser gewesen wäre als die Sonne um die Mittagsstunden?! Die Warwölfin war die einzige, welche einiges an den Fingern aufzählen konnte.

»Jane«, hatte die gnädige Frau am Tage vor ihrem Tode zu der neben ihr sitzenden Freundin gesagt, »Jane, eines will ich dir sagen und verbitte mir jede Widerrede. Von jetzt an hört das dumme Herumlaufen in der Welt auf; du machst mir kein einfältig Gesicht hin, sondern du nimmst Vernunft an und setzest dich fest auf dem Hofe. Du kriegst alle deine Bequemlichkeit, wie man das schriftlich finden wird, und dazu vermache[669] ich dir den Ritter und das gnädige Frölen – hörst du, den Ritter und das Frölen! Denn das ist jetzo meine einzigste Sorge, was die wohl anfangen sollen ohne mich! Du gibst dich also drein, Jane, und stellst deinen Stock in den Winkel. Merken läßt du dir nichts, aber das sage ich dir, du läßt sie mir nicht aus den Augen, und was das gnädige Frölen anbetrifft, so verlasse ich mich auf dein gutes Herz in betreff von seinen Humoren und Anzüglichkeiten! Du läßt sie mir nicht aus dem Sinn beide nicht – und hör, was den Ritter anbetrifft und wenn ihr so zusammensitzt in einer guten Stunde und ihr redet von mir und den Tagen, die wir zusammen gelebt haben, so macht euch nicht gegenseitig das Herz schwer, sondern haltet euch vergnügt und hell, ich bin es auch gewesen; und das überlaß ich dir ganz, wie du jedesmal von neuem es bringst an den Chevalier, daß er eine so große Ehre und Freude und solch ein Trost für mich gewesen sei mein ganzes Leben lang!«

»Verlasse Sie sich drauf, Fraue«, hatte Jane Warwolf geantwortet. »Ich nehme Ihr Vermächtnis an, Fraue, und will mich danach halten, wie ich es verstehe und wie ich Sie verstehe. Auf dem Hofe bleib ich.«

Und so war es geschehen! Die Vagabundin hatte ihren Wanderstab für alle Zeit auf dem Lauenhofe abgestellt und ihr Amt als Wartefrau leise, unbemerkt und unendlich feinfühlig angetreten. Und wie sich die Frau Adelheid das Verhältnis der wunderlichen drei vorgestellt haben mochte – wenn sie dieselben im Verlauf der Tage hätte beobachten können, so würde sie sicherlich mit ihrer heitersten Miene gesagt haben: »Nun, die Sache macht sich!«

Es war ein eigentümliches, halb komisches, halb rührendes Schauspiel, die greise, hexenhafte, helläugige Führerin mit ihren beiden Schutzbefohlenen durch Hof und Dorf, durch Haus und Garten ziehen oder sie mit ihnen zusammenhockend zu sehen, und eigentümlich war die sehr verschiedene Art und Weise, in der sich die beiden alten Herrschaften in die Pflegerin fanden.

Der Chevalier behielt, trotzdem er viel schwächer, gebrochner und hinfälliger erschien als die ausgewetterte, tapfere und[670] scharfe Führerin, sein volles Übergewicht über sie; aber das Fräulein von Saint-Trouin war wie ein verzogenes, unzufriedenes, weinerliches Kind und machte der wackern Jane in der Tat das Dasein oft recht schwer.

Je älter die Enkelin Jehans von Brienne wurde, und sie wurde allmählich sehr alt, desto deutlicher, und für die Umgebung unbequemer, redeten ihre hohen Ahnen und alle ihre Jugendgefühle auf sie ein, und sie weinte und wimmerte, nachdem sie kurz vorher sehr vornehm, schroff und anzüglich gewesen war, und wünschte tot zu sein und fürchtete sich sehr vor dem Sterben und war fortwährend mehr als je, was sie vor drei Lustren war: Très noble et très puissante Dame Comtesse de Pardiac, Dame Haute-Justicière du Comté de Valcroissant, née Chevalière de Malte par privilège accordé par le Pape Honorius III à la très illustre famille de Jehan de Brienne, premier Prince de Tyr et ensuite Empereur de Constantinople, etc. etc.

Der Ritter von Glaubigern war seit dem Tode der Frau Adelheid von Lauen eigentlich weiter nichts mehr als ein guter, alter Mann. Wir wissen, wie sein Reichtum immer den Kreis seines Daseins ausfüllte, aber seit man ihm das Pflegekind nahm, war dieser Kreis von Tag zu Tage enger geworden, und mit dem Tode der braven Freundin und Beschützerin schien auch sein Leben abgeschlossen zu sein. Daß dieses jedoch nur so schien, das merkte seine Umgebung jedesmal aufs deutlichste, wenn ein Brief aus Wien anlangte; und wie noch einmal, aber freilich zum letzten Male, der gute Ritter, der alte Kriegsmann und Held, der grolle Chevalier Karl Eustach von Glaubigern aus dem Schlummer erwachen und in voller Rüstung in den Kampf hinausreiten sollte, das werden wir bald erfahren. –

Der Junker Hennig von Lauen hatte seit jenem ersten Schreiben gleich nach seiner Ankunft in der österreichischen Hauptstadt, welches wir in seiner vollen Länge mitteilten, noch verschiedene andere abgeschickt und geschrieben, wie er es verstand. Auch Tonie Häußler hatte geschrieben, und sie hatte gelogen; aber Hennig hatte nicht gelogen, denn wir haben erfahren, wie leicht ihm das Leben verging und wie leicht ihn die Leute[671] und Dinge überredeten, sie von der besten und heitersten Seite zu nehmen, kein Narr zu sein, sondern ein kluger junger Mann: und – er schrieb, wie er die Leute und die Dinge sah und nahm, er schrieb vergnügt, und so log er wirklich nicht in seinen Briefen. Ach, Tonie log, und der Ritter von Glaubigern wußte, daß sie log; und an dem Tage, an welchem wir unsere Leser zum erstenmal wieder in persönliche Berührung mit den drei Alten auf dem Lauenhofe bringen, war ein neuer Brief von Wien angekommen, in welchem der Junker abermals die Wahrheit schrieb und der, wie Jane Warwolf sich ausdrückte, dem aufgerichteten Jammergerüst den Kranz auf das Dach steckte. –

Wir befinden uns wieder auf der Terrasse des Gutsgartens, und der Blick von derselben ist noch immer der nämliche. Da liegt die staubige Landstraße in der heißen Sonne, dort öffnet sich die Aussicht in die Dorfgasse und auf das Gemeindehaus, vor welchem vor so vielen Jahren der Karren mit der schönen Marie und der kleinen Antonie anhielt. Die Krodebecker Kinder sitzen auf der Treppe des Gemeindehauses, einige Wagen und Pflüge stehen zusammengeschoben um den Brunnen; das ist alles, wie es immer war. Nur die jungen Bäume in der Umgebung sind sämtlich tüchtig gewachsen und verdecken hie und da den Blick in das freie Feld und auf den Wald; doch dafür sind andere Bäume abgestorben oder niedergehauen, und somit ist auch das so ziemlich im gleichen geblieben.

An den chinesischen Pavillon hätte Freund Fröschler neulich beinahe ruchlos eine verschönernde Hand gelegt, das heißt, an seinem Platz eine ästhetischere Birkenhütte aufgerichtet; aber der Chevalier ist glücklicherweise noch zur rechten Zeit gekommen und hat das alte gute Plätzchen für das Fräulein von Saint -Trouin gerettet. Der chinesische Pavillon wirft noch immer seinen Schatten auf die Bänke und den kleinen runden Tisch. Der Lack und die schönen Farben sind freilich abgesprungen und verblichen; aber dem Lack und den schönen Farben ist überhaupt wenig zu trauen, und der Chevalier tat wohl daran, als er dem Administrator in den Arm fiel und ihm durch seinen architektonischen Ehrgeiz einen dicken Strich zog.[672]

Der chinesische Pavillon stand noch; aber das Fräulein von Saint-Trouin studierte an dem Tage, an welchem auch wir ihn von neuem betreten, darin nicht mehr die Korrespondenz der Marquise von Pompadour vom jüngern Crébillon; sondern der letzte Brief aus Wien lag auf dem kleinen, runden, wackelnden Tischchen, und der Ritter von Glaubigern und das Fräulein saßen regungslos auf den Bänken und sahen blind vor sich hin.

Wo der Chevalier und das Fräulein sich aufhielten, da war jetzt auch die Frau Jane Warwolf nicht weit entfernt, und diesmal lehnte sie mit untergeschlagenen Armen an dem Tische, schlug grimmig den Takt zu irgendeinem Marsch mit dem Fuße und rieb von Zeit zu Zeit mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers heftig die Stirn. Wenn das gnädige Fräulein von Zeit zu Zeit den Oberkörper stöhnend und seufzend hin und her wiegte, so schien das die Jane nicht in ihrem Nachdenken stören zu können; aber als sich endlich der Ritter rührte und mit einem tiefen Seufzer von neuem nach dem Briefe des Junkers von Lauen griff, da war die Jane auf der Stelle mit ihrem Sinnen zu Ende. Auch sie streckte von neuem die Hand nach dem Briefe aus; doch sie nahm ihn nicht, sondern klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers nur scharf darauf und rief:

»Da haben wir es also, und nun wären wir soweit, und alles kommt regelrecht im Gänsemarsch, eins nach dem andern, wie wir es uns längst ausgephantasiert haben. Also die Speisekammer mit dem welschen Namen ist mit allen Wintervorräten versehen, und der gnädige Herr von Häußler, mein lieber Freund, ist in der großmächtigen Stadt Wien angekommen oder wird demnächst dort anlangen, um anjetzo nun in seinem eigenen Hauswesen den guten Wirt zu spielen. Ach, Herr von Glaubigern, lassen Sie nur die Hand davon; es steht alles drin, und es wird sich wohl alles so verhalten, wie der junge Herr schreibt. Und den Koch, will ich sagen den Grafen mit dem ausländischen Namen, bringt er mit, der Dietrich, da muß denn wirklich das Leben da unten so fidel werden, daß es kein Mensch mehr aushalten kann. Jawohl hat es unser Herr Hennig mit den Festivitäten[673] und Lustbarkeiten gut getroffen, oje, oje; und wir hier, tausend Meilen fern, sitzen und stehen hier auf dem Lauenhofe wie in der Luft und in diesem Babilljon wie auf dem Kopfe, und das Herz möchte uns zerspringen aus Elend ob all der Herrlichkeit! Wie lange ist es her, seit ich meine Hanne Allmann wie ein Rohrsperling heruntermachte, weil man ihr die Marie und das Kind von Gemeinde wegen unters Dach gelegt hatte? Ja, ist das nicht eine Stunde, wo man recht merkt, wie oft man den Menschen um nichts ins Gesicht springt?! Da schreibt der junge Herr von der Herrlichkeit, und das Kind, unser Kind bezahlt die Kosten mit seinem Blut und Leben. O gnädige Herrschaften, freilich haben wir das alles allhier schwarz auf weiß von unserm Herrn Hennig, und wie dem zumute ist, das steht auf dem nämlichen Blatt – Sackerment!«

Die Warwölfin schlug so derb mit der Faust auf das Wiener Schreiben, daß Fräulein Adelaide heftig zusammenschrak und trotz allem Kummer Gelegenheit fand zu bemerken:

»Jane Warwolf, diese Heftigkeit war unnötig und ist unschicklich. Vergesse Sie sich nicht, Jane Warwolf; erinnere Sie sich stets, wen Sie vor sich hat.«

»Ich mich vergessen?« rief die Alte mit einem wenig reumütigen Blick auf das Gnädige. »Ich mich erinnern? Ich mich vergessen? O du grundgütiger Himmel, weiß ich nicht, wen ich vor mir habe, und habe ich nicht erst heute morgen zwei Stunden lang im Schweiße meines Angesichts den Pikkadill im Glaskasten mit Kampfer traktiert und aus purster Verehrung für die Hinterlassenen die Motten ausgebürstet?«

Der Ritter winkte seufzend abwehrend mit der Hand, und mit vollständig verändertem Ausdruck und Ton fuhr Jane Warwolf gegen ihn gewendet fort:

»Und nachher hab ich die Gräber auf dem Kirchhof verrestauriert, die schöne Marie und die Hanne Allmann. Das war auch eine harte Arbeit, und nachher ist der Brief von unserm Junker gekommen, und jetzt wollte ich, daß ich auch in der Grube läge, da möchte ein anderer kommen und mir das Unkraut vom Leib reißen und mich verrestaurieren oder es bleibenlassen,[674] das wäre mir ganz einerlei. Vergessen?... Ja was soll denn der Mensch eigentlich vergessen, und was soll er im Gedächtnis behalten? Vergessen?... Da bringt einen ein Wort auf das andere, und man weiß nie, wohin man kommt, wenn man beim Pikkadill angefangen hat. Was soll der Mensch im Gedächtnis behalten? Das Gute und Liebliche oder das Schlechte und Hundsföttische? Was hab ich und der Herr Ritter hier denn davon gehabt, daß wir das erstere aufbewahrt haben im tiefsten Hirn und Herzen? Nichts als Jammer und Kummer, und desto mehr davon, je älter wir geworden sind. Sagen Sie es gradheraus, liebster bester Herr von Glaubigern, daß ich recht habe. Fürchten Sie sich nicht! Die gnädige Frau hört uns leider Gottes nicht mehr, um einen Narren und Philosophen aus uns zu machen. Schämen Sie sich nicht; denn das gnädige Fräulein will ich diesmal, mit Respekt zu sagen, zu uns rechnen. Sehen Sie, Sie schütteln mit dem Kopfe, und das ist immer ein Zeichen, daß Sie ja und amen sagen wollen. Das ist grad das Schreckliche und Scheußliche! Aus dem Häußler oder dem Herrn von Häußler, oder wie er sich jetzt nennt, mache ich mir nichts. Es ist mir einerlei, ob er lebt oder stirbt, dick und fett oder umgekehrt wird; denn was kann er dafür, daß er jetzt unser Kind ruiniert? Nichts kann er dafür! Es mußte so sein, und es ist immerdar so gewesen! Die Hanne Allmann war auch ein schön und lieblich Wesen in ihren ältesten Tagen und ist da drüben im Siechenhaus verdorben und hat fünfzig Jahre drauf gewartet. Und hier sitzen wir drei – Sie vor allen, Herr von Glaubigern –, und da sollte man freilich den Faden in der Welthistorie verlieren.«

»Hab ich nicht ein gutes Los gewonnen, Jane Warwolf?« fragte der Ritter.

»Sie?! Sie?« fragte dagegen die alte kluge Frau. »Gehen Sie hin und fragen Sie das Kind, unsere Tonie in Wien, darnach; die muß Sie jetzt noch besser kennengelernt haben in ihrer Not als ich hier, und die wird Ihnen Bescheid geben. Ich wollte, ich dürfte über Sie lachen, Herr von Glaubigern, da käme ich doch heute einmal dazu.«[675]

»Von mir scheint heute gar nicht die Rede sein zu sollen!« sprach jetzt das gnädige Fräulein mit sehr pikierter Miene.

»O Sie gehören freilich zu den Allerglücklichsten, Frölen!« rief die Warwölfin. »Sie haben wohl auch allerlei Dinge und Sachen gesehen, die Sie nicht bekommen konnten; aber Sie haben eben nichts Unverständiges gesehen, sondern sich stets hübsch auf dem Erdhoden gehalten und haben dazu immer warm und behaglich gesessen, und so – seien Sie froh und vergnügt, daß von Ihnen hier nicht die Rede gewesen ist. Ein böser Wille ist gewiß und wahrhaftig nicht dabei vorhanden gewesen! Wir sprechen ja auch nur von dem Herrn von Häußler, und daß der nicht schuld daran ist, daß alles Liebliche und Schöne in der Welt verruiniert wird; denn wenn das nicht so sein müßte, so möcht ich den wohl kennen, welcher das zustande brächte. Was mich im besondern anbetrifft, so rechne ich mich ganz und gar zum Vieh und mache mir, mit Respekt zu sagen, eine Ehre draus.«

»Dafür danke ich Ihr, Jane Warwolf«, sprach das Fräulein von Saint-Trouin halb empört und halb beistimmend. »Es zeigt mir, daß Sie Ihren Standpunkt bei besserer Überlegung einzunehmen weiß. Es ist ein Unterschied in der Welt immer noch, und ich rechne mich bis jetzt denn doch nicht zum Vieh, was auch die erbärmlichen Zeiten aus uns gemacht haben.«

Die Frau Jane fand nicht die Muße, auf diese Eräußerung der Haute-Justicière noch etwas zu entgegnen; denn nun hatte sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Ritter von Glaubigern zuzuwenden, und es war ihr nicht zu verargen, wenn sie plötzlich gar große Augen machte und den Mund sehr weit öffnete.

Der Ritter, welcher bis zu diesem Augenblick in sich zusammengesunken und kümmerlich vorgebeugt dasaß und die Stirn mit beiden Händen hielt, ließ jetzt die Hände sinken und richtete sich empor. Das erstaunliche Ereignis, von welchem wir zu Anfange dieses Kapitels sprachen, trat ein – der Ritter richtete sich auf!

Das Alter schien ihm wie ein schwerer Mantel von den Schultern zu sinken; die welken Glieder und Muskeln reckten[676] und dehnten sich und schienen mit einem Male neue Kraft zu gewinnen. Er seufzte noch einmal aus tiefer Brust; aber dann stand er wie ein Mann in seinen besten Jahren vor dem Tischchen, nahm den Brief des Junkers Hennig von Lauen, überflog ihn noch einmal, faltete ihn bedächtig zusammen, schob ihn in die Brusttasche und sprach langsam, aber klar und bestimmt:

»Vergeblich ist alles Sinnen, Grübeln und Grämen, wir lösen den Bann nicht dadurch. Von allen Seiten dringt der Feind auf sie an, und sie steht ganz allein. Was will der Knabe? Er weiß kaum, was er schreibt! Auch er läßt sich gegen die Unglückliche ins Feld führen. So wird es denn, alles in allem genommen, das beste sein, daß man mit eigenen Augen sieht; und solches zu tun ist meine Absicht. Ich werde nach Wien reisen!«

»Herr von Glaubigern?!« kreischte das Fräulein.

»Ja, ich werde nach Wien reisen«, wiederholte der Ritter.

Jane Warwolf schrie nicht auf wie Adelaide von Saint-Trouin; allein ihr Blick, ihr Emporfahren und Zurücktreten war ausdrucksvoller, als wenn sie nicht nur die Decke des chinesischen Pavillons, sondern auch ein gut Stück der blauen Himmelsdecke über der Gartenterrasse heruntergeschrien haben würde.

»Ich reise nach Wien und nehme dem Mann das Kind, wie er es mir genommen hat«, sagte der Ritter Karl Eustachius von Glaubigern. »Da wäre denn das Rätsel gelöst, Ober welches ich mir den Kopf und das Herz zerbrochen habe, seit der Wolf in der Nacht über uns kam! Der alte Mann dort unten hat seinen Willen gehabt, er hat jahrelang versuchen dürfen, was er durchsetzen mochte. Nichts hat ihn gerührt: unbarmherzig, leichtsinnig, verblendet und – vergeblich, vergeblich hat er sich abgemüht, das Beste in der Welt sich – sich dienstbar zu machen. Nun aber tritt mein Recht von neuem in Kraft und Geltung, und bei meiner Ehre, ich werde es mir nehmen! Auch ich will wie der Wolf über den Mann kommen und Rechenschaft fordern über diese Jahre. Ich reise nach Wien – morgen reise ich; ich werde das Kind zurückholen, mein Fräulein! Ja, Jane, ich werde das Kind zurückholen, und es wird mir folgen. Ja, Jane[677] Warwolf, wenn ich es wagte, so würde ich hierüber auch lachen; denn merkt ihr wohl, welch ein Allerweltsspaß darin liegt, daß dieses das richtige geworden ist, daß heute ich hingehen darf, mein Eigentum zu nehmen, wie jener Mann es sich vordem genommen hat?! Das ist die Komödie, die große Komödie der Welt, und der Schluß ist nahe, und ich bringe den Schluß, und du – du hattest unrecht in allem, was du soeben vorbrachtest, Jane Warwolf!« –

Darin lag freilich ein göttlicher Humor, und wer sich zuerst darüber faßte, war nicht die Frau Jane Warwolf aus Hüttenrode, sondern Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint Trouin, rechtmäßige Beherrscherin von Malta, Tyrus und Byzanz. Auch sie erhob sich jetzt stattlich von ihrem Sitze, reichte dem Chevalier die Hand zum Kuß und sprach:

»Mein Herr von Glaubigern, Sie haben mich überrascht; aber Sie machen mich heute stolzer als je auf Ihre Bekanntschaft und Achtung. Mein Herr von Glaubigern, wir haben einander oft mißverstanden, und ich glaube nicht, daß die Schuld immer auf meiner Seite lag: in diesem Augenblick verstehen wir uns, vielleicht zum erstenmal in unserm Leben, vollkommen. Sie machen mich heute sehr glücklich, Herr Chevalier, und ich rechne es mir für eine Ehre an, daß ich seit dem sechsten Februar des Jahres achtzehnhundertsechzehn meine Tage in Ihrer werten Gesellschaft hinbringen durfte; aber – glauben Sie wirklich, Ihren Kräften diese weite Reise zutrauen zu dürfen?«

Der Ritter hob die dürren Finger der Dame mit altgewohnter Zierlichkeit an seine Lippen und erwiderte mit einer tiefen Verbeugung:

»Mein Gnädigstes, ich fühle mich heute nicht angegriffener als gestern, als vor zwanzig Jahren. Ich gedenke meinen Vorsatz auszuführen, und es ist mir wahrlich eine große Ehre und Freude, daß Sie denselben billigen.«

»Allons, à cheval!« rief das Fräulein mit einem unnachahmlichen Wink der Hand und warf einen Blick umher, als ob sie sämtliche Vasallen ihrer sämtlichen Länder dadurch zur Heeresfolge aufrufen könne. »Mein teurer Herr von Glaubigern, ich[678] bitte Sie freundlichst, den Tee heut abend in meinen Zimmern einzunehmen.«

Nun hatte sich endlich auch die Frau Jane so weit gefaßt, um artikulierte Laute für ihre Gefühle zu finden.

Vor allen Dingen stürzte sie sich auf den Chevalier, packte ihn und umarmte ihn mit solcher furiosen Inbrunst, daß auch ihm nunmehr der Atem fast entging. Dann ließ sie ihn frei, trat wieder einen Schritt zurück, erhob von neuem die Arme in die Luft und rief:

»Das ist das Allergrößte, was Krodebeck je erlebt hat, und wenn ich auch nur deshalb auf dieser Erde jung geworden wäre, um hiervon Zeugnis ablegen zu können, so wär's genug, zum Überfließen genug, und glauben tät's mir doch niemand, wenn nicht der Herr Ritter selber noch einmal dafür einträte! Da wird sich freilich der Häußler wundern! Kein Gespenst um Mitternacht könnte keinen größern Affekt zuwege bringen, und darbeisein möcht ich wohl! O und Tonie! Unsere Tonie!... Das wär alles, als wenn das Mühlrad angehalten wird und alles still wird! O Herr von Glaubigern, Herr von Glaubigern, aber seit dreißig Jahren, ich will sagen, seit zwanzig Jahren haben Sie ja keinen Fuß vom Lauenhof gesetzt. Vor zwanzig Jahren waren Sie einmal in Hannover –«

»Und jetzt reise ich nach Wien!« sprach der Ritter mit seinem mildesten Lächeln, bot dem Fräulein von Saint-Trouin den Arm und führte es von der Terrasse herab, dem Hause zu.

»Es ist wohl nicht möglich!« stöhnte Jane Warwolf und fiel auf die nächste Bank.

Zufällig führte den Administrator sein Weg eine Viertelstunde später in den Pavillon. Mit einer Weizenähre zwischen den Zähnen kam er summend daher, wahrscheinlich, um von neuem, wenigstens in Gedanken, die Axt an das chinesische Wunder zu legen.

Bei seinem Nahen erwachte Jane aus ihrer Betäubung, erhob sich und fragte:

»Sagen Sie, Herr Fröschler, waren Sie schon einmal da hinten – dort um die Ecke, in Quedlinburg?«[679]

»Ich hatte einige Male das Vergnügen, meine Hochverehrteste.«

»Und hat man Ihnen auch die alte ausgeräucherte Äbtissin gezeigt?«

Freund Fröschler schnalzte wie in der Erinnerung eines hoben Genusses mit der Zunge:

»Die schöne Aurora? Die holde Gräfin von Königsmark? Ich hatte die Ehre – o delikat – brr! Sehr Pergament und Wurmfraß – zehn Silbergroschen an den Küster.«

»Nun, Herr Fröschler, so will ich Ihnen etwas sagen. Die hat sich auf heut nachmittag zum Kaffee angemeldet und kommt im Staat – sechsspännig – und Sie mögen ihr entgegenreiten!«

Damit humpelte auch die Alte dem Hause zu, und der Administrator stand, sah ihr nach, nahm die Ähre aus dem Munde, wirbelte sie zwischen den Fingern und murmelte:

»Das weiß der Teufel! Hätt man nicht diesen festen Boden unter sich und tagaus, tagein mit den Lümmeln vom Eichsfelde zu tun, das Grauen sollte einem über diese alten Spukgestalten, die man hier zur Gesellschaft hat, am hellichten Tage ankommen.«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 4, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 668-680.
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