Drey und Vierzigstes Kapitel.

[489] Wie Pantagruel den Gänszaum wegen der Würfelgericht entschuldigt.


Hiemit schwieg Gänszaum. Breitmaul hieß ihn aus dem Verhör-Saal sich entfernen; wie geschah; drauf sprach er zum Pantagruel: Erlauchter Prinz, nicht nur um der Verpflichtung willen, die ihr durch eure unzähligen Wohltaten diesem Parlament und unserm ganzen Markgrafthum Myrelinguen auferlegt hat, sondern auch wegen des hohen Verstandes, reifen Urtheils und wunderseltnen Gelahrtheit die der grosse Gott, alles Guten Geber euch verliehen hat, erfordert es die Billigkeit von uns daß wir euch die Entscheidung überlassen in dieser so befremdlichen, fast neuen und pardoxen Sach des Gänszaum, der in enerm Beyseyn, Zusehn und Hören nach dem Ausschlag der Würfel zu richten gestanden hat. Ersuchen euch demnach, hierüber zu erkennen was euch selbst gerecht und billig dünken wird.

Darauf antwortet' Pantagruel: Ihr Herrn, es ist, wie ihr wohl wißt, nicht meines Amtes noch Berufs, Prozeß entscheiden: weil ihr aber mir soviel Ehr erzeigen wollt, will ich, anstatt des Richters Amt hie zu verwalten, Supplikant seyn. Denn ich nehm an unserm Gänszaum mehrere Eigenschaften wahr, um derenthalben ihm meines Erachtens in diesem Fall möcht verziehen werden. Zum ersten, Alter: zweytens Einfalt, die, wie ihr selbst am besten wißt, nach unsern Rechten und Satzungen gar leicht für ein Vergehen Gnad und Vergebung erwirken. Zum dritten find ich zu Gänszaums Gunsten in unsern Rechten noch einen andern Punkt erwogen: daß nämlich dieser einige Fehl vertilgt, verlöscht und versenkt muß werden in dem unendlichen Ocean so vieler billigen Urtheilssprüch als er zeither gefället hat;[489] da man seit mehr denn vierzig Jahren ihn ganz unsträflich erfunden hat. Wie, wenn ich etwann in den Loir-Strom ein Tröpflein Meerwasser giessen wollt, dieß einige Tröpflein niemand spüren, niemand den Fluß würd gesalzen heissen. Und dünkt mir hierinn ich weiß selbst nicht welch eine Schickung Gottes zu seyn, der dieses Loos-Erkenntniß also gesteuert und geleitet hat, daß alle bisherige Urthelssprüch vor diesem euern verehrlichten Oberhofgericht belobt sind worden. Denn, wie ihr wißt, gefällt Ihm öfters Seinen Ruhm zu verkündigen durch Blendung der Weisen, Unterdrückung der Mächtigen, und Aufrichtung der Niedern und Biedern.

Dieß alles lass ich itzt bey Seit, und bitt euch lediglich, nicht um der angeblichen Verpflichtung willen zu meinem Haus, da ich nichts weiß von, sondern bey der aufrichtigen Gewogenheit die ihr von jeher, so dieß- als jenseit der Loir, zu Aufrechthaltung eures Standes und Würden in uns erfunden habt, daß ihrs für dießmal ihm verzeihn wollt, und zwar auf zweyerley Beding: Erstlich, wenn er dem durch dieß fragliche Urthel condemnirten Theil Genugthuung gegeben, oder dazu sich wird verpflichtet haben: für welchen Punkt ich hiemit haft und sorgen will. Fürs zweyt, daß ihr zum Beystand ihm in seinem Amt einen jüngern, gelahrten, klugen, rechtschaffnen und erfahrnen Rath zugebt, mit dessen Hülf er künftig seinen Rechtsgeschäften fürsteh. Und im Fall ihr ihn seines Amtes gänzlich solltet entsetzen wollen, erbitt ich mir innständig ihn zu freyer Gab und Gunst von euch. Ich werd der Plätz und Stellen schon genug in meinen Staaten finden, wo ich ihn hinthun und brauchen kann. Und bitt hiemit den guten Gott, Schöpfer, Erhalter und Geber alles Guten, daß er euch immerdar in Seinem heiligen Schutz woll behalten.

Mit diesen Worten verneigt' er sich vor dem ganzen Hof, und ging aus den Schranken. Am Thor fand er Panurgen, Bruder Jahnen, Epistemon und die Andern. Da stiegen sie zu Pferd und machten sich auf den Weg zum Gargantua. Unterwegs erzählt' Pantagruel ihnen Punkt für Punkt die Geschicht von dem Gänszaumischen Rechtsverfahren. Bruder Jahn sprach, er hätt den Peter Bumbaum gar wohl gekannt als er noch zu Fontaine-le-Conte losirt hätt[490] unter dem edeln Abt Ardillon. Gymnast sagt' er wär in dem Zelt des dicken Ritters Christian von Crissé mit zugegen gewesen als der Gasconier dem Ebentheurer die Antwort gegeben. Panurg nahm etwas Anstand dieß Prozeßglück durch das Loos zu glauben, zumal es so gar lang gewährt hätt. Epistemon sprach zum Pantagruel: Etwas ähnlichs erzählt man uns von einem Schultheiß zu Monslhery. Aber was soll man zu diesem stetigen Würfel-Glück so viel Jahr lang sagen? Ein oder zwey also durch Zufall ertappte Urthel sollten mich nicht Wunder nehmen, zumal in Fällen, die an sich selbst zweydeutig, kritisch, verworren und dunkel sind, wie zum Beyspiel der vorm Proconsul Cn. Dolabella in Asien geführte Rechtsstreit.

Der Fall ist dieser: es hätt ein Weib in Smyrna von ihrem ersten Mann ein Kind, mit Namen A B C. Der Mann starb. Eine Weil darauf heyrathet' sie zum andern Mal, und hätt aus dieser zweyten Eh einen Sohn mit Namen F E G. Begab sich nun (wie ihr wohl wißt, Stiefväter, Vitrici, Novercae, Halb- und Stiefmütter sind den Privignis und Kindern der verstorbnen Eltern selten hold), daß selbiger Mann und sein Sohn, verstohlen, meuchlerisch, heimtückischerweis den A B C. ums Leben brachten. Das Weib sah ihre Tück und Bosheit wohl ein, wollt ihnen ihren Frevel nicht ungenossen hingehn lassen, und bracht sie wieder beyd ums Leben aus Rach um den Tod ihres ersten Sohns. Sie ward von der Justiz ergriffen, vor Cn. Dolabella gestellt. In seiner Gegenwart gestand sie das Factum unverhohlen ein, und führt' nichts weiter für sich an als daß sie sie mit Fug und Recht entleibt hätt. Dieß war der Status causae.

Er fand die Sach so zweifelhaft, daß er nicht wußt auf welche Seit er sich neigen sollt. Des Weibs Verbrechen, die ihren andern Mann und Sohn erschlagen hätt, war[491] groß, allein des Mords Beweggrund dünket' ihm auch so natürlich, gleichsam wie im Völkerrecht fundirt zu seyn, hinsichtlich sie zusamen meuchlings, heimtückischerweis ihren ersten Sohn, der ihnen kein Leid noch Schimpf gethan, aus purem Geiz die ganze Erbschaft an sich zu bringen, erschlagen hatten: daß er sich der Entscheidung halber nach Athen an den Areopag wandt und dessen Rath und Urtheilsspruch hierinn begehrt'. Der Areopag entschied, man sollt nach hundert Jahren ihm in Person die streitenden Parteyen schicken, Bescheid zu geben auf etliche Fragstück so man noch zur Zeit bey dem Verhör nicht fänd. Dieß hieß so viel, als daß der Fall ihnen so dunkel und mißlich schien, daß sie nicht wüßten was darüber zu sagen noch zu beschliessen wäre. Wer ihn durch Würfeln entschieden hätt, wär nicht fehlgegangen, wie das Loos auch gefallen wär: wenn wider das Weib, so hätt sie Züchtigung verdient, die ihre Rach sich selbst genommen, so der Gerechtigkeit gebühret. Wenn für das Weib, so hätt man sie durch schweren Gram für befugt gehalten. Aber so viele Jahr hindurch, in Gänszaums Fall, dieß nimmt mich Wunder.

Ich wüßt, antwort Pantagruel, auf eure Frag euch kategorisch nichts zu erwidern, muß gestehn. Conjecturaliter möcht ich dieß Spruch-Glück den günstigen Aspecten des Himmels und der Huld weltlenkender Geister zuschreiben: welche, in Betracht der Einfalt und getreuen Meinung des Richters Gänszaum der, mistrauisch auf eignen Witz und Fähigkeit, wohl kundig der Antinomien und Widersprüch in den Gesetzen, Edicten, Gebräuchen und Ordnungen, bekannt mit dem Blendwerk des höllischen Lügners, der oft durch seine Diener die argen Anwäld, Räth, Procuratoren und andre solcher Helfershelfer in einen Boten des Lichts sich verkappt, das Schwarz in Weiß kehrt, beyden Theilen phantastisch vorlügt daß das Recht auf ihrer Seit sey (wie ihr wißt, kein Sach ist so schlecht, sie sind ihren Anwald; sonst wär kein Prozeß auf Erden mehr:) Gott dem gerechten Richter in Demuth sich anbefahl, des Himmels Gnad ihm zum Beystand rief, das Wagniß und Dunkel des End-Ausspruchs dem heiligen Geist anheimstellt', und durch dieß Loos Sein Weisung und Willen, so wir Urthel nennen, erforschen wollt, etwann die Würfel zu Gunsten[492] Deß der vor Gericht mit gültigem Klaggrund ausgerüstet, sein gutes Recht zu wahren kam, also regiert und geleitet haben. Wie auch die Talmudisten lehren, daß im Loos nichts Böses enthalten, und Gott durch Loos den Menschen nur in Zweifelsangst Seinen Willen verkündigt.

Ich möcht nimmer denken noch sagen, glaubs auch gewiß nicht, (so kraß ist der Unfug, so augenscheinlich die Schalkheit derer, die hie in diesem Parlament zu Myrelinguen das Recht verwalten) daß ein Prozeß durch Würfel (fall was fallen mag) übler entschieden wär, als wenn er durch ihre Händ voll Blut und böser Gelüsten ging, zumal all ihres Handwerks Brauch und Richtschnur von einem gewissen Tribunianus herrührt, der ein irrgläubiger Mensch und ein barbarischer Ketzer war, so ruchlos, bübisch, ungerecht und geitzig, daß er die Recht, Edict, Rescript, Ordonnanzen und Satzungen meistbietend für klingende Münz verkauft', und ihnen also ihre Brocken in jenen kleinen Rechtsabschnitzeln und Bröslein vorschnitt, die bey ihnen im Schwang gehn; wobey er den Rest, der das Gesetz im Ganzen anging, abschafft' und unterschlug, aus Furcht daß, wenn es ganz überblieb und man die Bücher der alten Juristen von Auslegung der Zwölf Tafeln und Prätorialsprüch einsäh, sein Schelmenstück vor aller Welt an den Tag möcht kommen. Drum wärs oft besser, das ist den Parteyen minder gefährlich, auf Wolfseisen einherzugehn, denn seine Sach auf ihr Erkenntniß und Urthel zu stellen: wie seiner Zeit auch Cato wünscht', und rieth daß man den Spruchgerichtshof mit Wolfseisen pflastern sollte.

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 1, S. 489-493.
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