Fünf und Dreyssigstes Kapitel.

[331] Wie wir nach dem Boutelgen-Tempel unter die Erd stiegen, und wie Chinon die erste Stadt der Welt ist.


Also stiegen wir unter die Erd durch ein mit weissem Gyps betünchtes Gewölb, an dem von aussen roh ein Tanz von Weibern und Satyrn, wie sie den alten lachenden Silen auf seinem Esel begleiten, gemalt war. Da sprach ich zum Pantagruel: dieß Pförtlein hie gemahnt mich an den Bildkeller der ersten Stadt der Welt: denn dort sind eben solche Bilder, und auch so frisch gemalt wie hier. –

Wo? frug Pantagruel, was ist dieß für eine erste Stadt, da ihr von sprecht? – Herr, sag ich, Chinon ist es, oder Caynon in Tourain'. – Ey, antwort mir Pantagruel, wo Chinon liegt, das weiß ich wohl, und auch der Bildkeller: ich hab da manch frisches Glas geleert, und zweifl auch keineswegs daß Chinon sehr eine alte Stadt sey; schon ihr Wappen giebts, darinn man zwey bis dreymal liest: »Chinon die Stadt, zwar klein, doch grossen Namen hat: steht fest auf altem Steine, ob der Vienn' am Haine.« Wie aber wärs die erste Stadt der Welt? Wo find ihr dieß geschrieben? Woraus vermuthet ihrs? – Ich les, antwort ich, in heiliger Schrift, wie Kain der erste Städt-Erbauer gewesen ist: sehr glaublich also, daß er die erst' nach seinem Namen Kaynon getauft hab, wie seitdem nach seinem Beyspiel alle andre Städt-Erbauer und Stifter ihnen ihre Namen ertheilet: Athene, (das ist auf Griechisch Minerva) Athen; Alexander Alexandrien; Constantin Constantinopel; Pompejus[331] Pompejopolis in Cilizien; Hadrian Hadrianopel; Kana denen Kananäern; Saba den Sabäern; Assur den Assyrern; Ptolomais, Cäsarea, Tiberium, Herodium in Judäa. – Während wir diese Gesprächlein pflogen, da trat der Ober-Bullner oder Haus-Weise wie ihn die Latern hieß, der göttlichen Boutelg Hofmarschalk, begleitet von den Tempel-Wächtern herein. Das waren französische Boutler; und da er uns Tyrsusstäblein schwenken und Epheukronen tragen sah, wie vorgedacht, auch unsre hohe Latern erkannte, so ließ er uns frey einpassiren und befahl uns graden Wegs zur Fürstinn Bakbuk, dem Ehrenfräulein der Boutelg und aller Mysterien Priesterinn, zu führen; wie sofort geschah.

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 2, S. 331-332.
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