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[37] Ihr Brief – mein lieber Freund, wer wollte noch behaupten, daß wir keine Ideale haben? Zuviel, immer noch zuviel! Ihre ›Beziehung‹ zu Yvonne – Yvonne, die es gar nicht gibt – und vielleicht gibt es sie doch und Sie begegnen ihr eines Tages auf der Treppe.

Und der fremde Mann? – Er hat eine starke Familienähnlichkeit mit Yvonne, aber es geht mir besser als Ihnen – es gibt ihn – und ich bin ihm schon öfters auf der Treppe begegnet.

O bitte, kommen Sie mir nicht wieder mit der Frau vom Meer – ich kenne das – sowie man den fremden Mann erwähnt. Aber ich habe keine Sympathie für die Dame, sie hat es wirklich nicht verstanden. Der richtige fremde Mann verträgt kein Pathos – und wie kann man nur mit dem Gedanken umgehen, ihm zu folgen – ihn womöglich gar zu heiraten. Und auf der anderen Seite – ihn ganz laufen zu lassen, um mit einem alten Landarzt glücklich zu werden? Das ist mindestens ebenso unverzeihlich.

Überhaupt – der fremde Mann muß in erster Linie ein Gentleman sein, sehr elegant, sehr comme il faut und[37] mit dem ›infamen Charme‹ – aber doch um Gottes willen nicht ein Schiffskapitän mit Zuchthaustendenzen. Es wäre deshalb eigentlich richtiger zu sagen: der fremde Herr.

Und er darf niemals zur Beziehung werden, muß in der Versenkung verschwinden, ehe das in Betracht kommen könnte. Er tut es auch, sonst ist er eben nicht echt gewesen.

Etwas davon liegt wohl im ersten Anfang jedes Minnehandels – es ist ja immer schade, wenn man sich erst kennen- oder gar lieben und schätzen lernt. Aber der ganz große Reiz ist das Erlebnis mit einem Fremden. Ich sitze abends im Lesezimmer eines Hotels. – Er auch, aber an einem anderen Tisch. – Ich schreibe. – Er liest. – Er schaut hier und da herüber – ich auch. – Ich weiß gleich, daß er es ist – er hat den infamen Charme. – Gott sei Dank, er ist echt, denn er spricht mich nicht an. Er weiß auch, daß ich es bin.

Eigentlich warte ich auf jemand anders und weiß nicht recht, wie es werden soll. Aber er weiß es ganz genau und liest ruhig weiter.

Endlich ruft man mich ans Telefon. Er, der andere, auf den ich warte, kann heute nicht mehr kommen.

»Was willst du denn heute abend anfangen?« – »Oh, ich gehe schlafen.« – »Also dann auf morgen.« – Abläuten...

Der fremde Herr legt seine Zeitung weg, ganz langsam, ganz ruhig. – Ich gehe zum Lift – er auch. Das Hotel ist sehr groß, hat sehr viele Stockwerke, ist sehr überfüllt. – Wir sind beide stehengeblieben, stehen uns gegenüber. – Er ist sehr hoch, sieht mir von oben herunter in die Augen. – Der Lift gleitet, hält an jeder Etage und[38] Zwischenetage, denn der Boy ist verschlafen und scheint zu meinen, daß überall jemand aussteigt. – Wir haben auch das Gefühl, daß der kleine Raum immer leerer wird, immer einsamer. – Unsere Augen lassen sich nicht los – der fremde Herr sagt kein Wort, beugt sich langsam zu mir herunter – wir sehen uns immer noch in die Augen – unsere Lippen ›finden sich‹. – Der Lift geht durch eine ganze Ewigkeit. – Kein Wort wird gesprochen – der Lift hält.

Und ich mache hier eine Pause, lieber Freund.

Der Herr im Lift ist der Idealfall – der erfüllte Traum. Nicht immer sind die Götter so neidlos. Manchmal lernt man ihn auch kennen, sieht sich wieder, dann ist natürlich alles entwertet. Hat man einmal mit dem fremden Mann gefrühstückt, so ist der Zauber gebrochen. Dann wird es ein ganz gewöhnliches Erlebnis.

Aber ich will Ihnen noch von einer sehr merkwürdigen Ausnahme erzählen – von einer jahrelangen Beziehung, die immer der fremde Mann blieb. Jahrelang – ja, da horchen Sie auf – es waren sogar ziemlich viele Jahre, es hat auch eigentlich nie einen bestimmten Anfang gehabt und hat nie ein definitives Ende genommen.

Wie und wo wir uns zum erstenmal sahen, gehört nicht hierher – seien Sie nicht zu neugierig; wenn ich eine uralte Dame mit weißen Haaren bin, erzähle ich es Ihnen vielleicht einmal, jetzt sicher nicht. Aber die damaligen Umstände brachten es mit sich, daß er mich nie bei Tage aufsuchen konnte. Auf die Länge ließ sich das natürlich nicht vermeiden, aber dann machte es auch keinen Eindruck mehr, daß er einen Namen und eine Position im Leben hatte. Er blieb der fremde Mann. Es war zur Tradition geworden, daß wir jede nähere persönliche Bekanntschaft,[39] jedes Übergreifen unserer Beziehungen auf unser sonstiges Dasein vermieden. Und ich muß sagen, daß wir es wirklich verstanden, diese Tradition zu kultivieren. Unser Verkehr blieb immer zeremoniell, unpersönlich und voller Distanz. Wir haben uns nie auch nur für einen Moment geduzt, sind nie zusammen ausgegangen oder dergleichen. Trafen wir uns doch einmal, im Theater oder bei ähnlichen Gelegenheiten, so grüßten wir uns aus der Ferne. War es nicht zu vermeiden, so ließ er sich mir auch vorstellen, und wir wechselten einige höfliche Redensarten.

Er hatte immer meine Adresse und meine Schlüssel, bei jedem Wechsel meiner Wohnung oder meiner Lebenslage verfehlte ich nicht, ihm diese beiden Dinge zuzustellen. (Sie können sich wohl denken, daß seine Schlüsselsammlung mit der Zeit beträchtlich angewachsen ist.)

Er meldete sein Erscheinen durch ein Billett oder Telegramm – dann war ich immer für ihn zu Hause. Und darin bewies er seine wahrhaft antike Seelengröße: wie und wo er mich auch im Lauf der Zeiten aufgesucht und gefunden hat, ob in einer eigenen Wohnung, im Hotel oder einer gänzlich improvisierten Umgebung – er verzog nie eine Miene, wunderte sich nie, fragte nie – erschien zu den spätesten und unwahrscheinlichsten Stunden – immer korrekt, immer fremder Herr. Und ging ebenso wieder fort, ehe der graue Alltag das Leben wieder wahrscheinlich machte.

Manchmal kam er auch erst gegen Morgen, wenn ich längst schlief, stand auf einmal mit dem Zylinder in der Hand da – das schätzte ich ganz besonders. – Oder ich glaubte nur von ihm geträumt zu haben und fand dann[40] beim Aufwachen Blumen, die nur von ihm sein konnten – er brachte immer Blumen mit. Solche Erinnerungen liebe ich sehr – auch noch manche andere – wenn wir in der Morgendämmerung am Fenster Kaffee tranken und uns korrekt und gebildet unterhielten. Wenn er dann die Straße entlang ging, sah ich ihm nach, und es hatte so viel Reiz, gar keine greifbare Vorstellung von seinem Leben zu haben, keine Ahnung von seiner Umgebung, nicht zu wissen, mit was für Menschen er verkehrt und wie er mit ihnen ist.

Andere Frauen – das hat mich eigentlich nie interessiert. Ich habe späterhin aus verschiedenen Andeutungen kombiniert, daß er eine ›himmlische Liebe‹ hatte, eine sehr unglückliche. Bei anderen Männern habe ich das manchmal etwas dumm gefunden, aber bei ihm hatte es viel Charme und gab eine düstere Nuance, die ihm gut stand.

Übrigens verloren wir uns zeitweise ganz aus den Augen, er machte öfters lange Reisen, und ich war ja immer viel unterwegs. Ich habe dann auch kaum an ihn gedacht – ob er an mich dachte, weiß ich nicht. Aber wenn wir uns beide nach M... zurückfanden, war wieder alles wie vorher. Nur gehörte es unverbrüchlich zu unserer Tradition, daß wir in der Silvesternacht zusammenkamen, denn der 31. Dezember war der Ausgangspunkt unserer Beziehungen gewesen. Mit oder ohne Verabredung, ich wußte, daß er dann kommen würde; und meine sonstigen Bekannten haben sich immer gewundert, warum ich bei jeder Neujahrsfeier geheimnisvoll vom Schauplatz verschwand, sobald es zwölf Uhr geschlagen hatte.

Doch am Ende die ›große Leidenschaft‹, die Sie in meinem[41] Dasein so schmerzlich vermissen und die immer noch entdeckt werden soll? – Gott bewahre, gerade zur Zeit der glücklichsten und intensivsten Lieben schätze ich ihn am meisten und hatte förmlich Sehnsucht nach ihm, wenn ich ihn lange nicht sah. Und war er zeitweilig nicht vorhanden, so wurde ich auch gegen die anderen kühler.

Töricht genug von den anderen, daß sie samt und sonders eine starke Abneigung gegen den ›großen Unbekannten‹ hatten und nie begreifen wollten, daß Eifersucht in diesem Fall ganz sinnlos war.

Ja, lieber Freund, der fremde Mann ist ein inhaltsschweres Kapitel in meinem Leben und eines, das ich immer gerne wieder lese – aber nicht alle dürfen dabei mit ins Buch sehen wie Sie. Wenn Sie es doch nur einmal anerkennen wollten, wie sehr ich Sie verwöhne.

Quelle:
Franziska Gräfin zu Reventlow: Romane. München 1976, S. 37-42.
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