Erste Szene


[852] Bühne wie im Ersten Akt, Frau Gerth sitzt vorn, Ernst steht am Fenster neben dem Schreibtisch.


MUTTER. Es war recht von dir, Ernst, daß du hast den Doktor kommen lassen. So weiß man wenigstens, woran man ist. Merkwürdig. Die Sophie war immer so gesund, ich hätt nicht gedacht, daß diese Zeit sie so arg hernehmen wird. Aber gewiß: wenn sie das überstanden hat, wird sie erst recht aufblühn. Ernst trommelt an die Scheiben. Du mußt wohl bald in die Kanzlei?

ERNST sieht auf die Uhr. Ja, gleich.

MUTTER. Es ist ein rechtes Malheur, daß du gerade jetzt so außergewöhnlich viel zu tun hast. Und nun schon durch Wochen. Wird das noch lange dauern?

ERNST wendet sich – kurz. Warum?

MUTTER. Du siehst nicht gut aus. Das ist kein Wunder. Es ist wirklich zu viel, was man euch aufbürdet.

ERNST. Nach dem Sommer, da giebts eine Menge Rückstände.

MUTTER. So. Ich fürchte nur jeden Tag, wenn du jetzt auch noch krank wirst ...


Ernst macht eine unwillig abwehrende Bewegung.
[852]

MUTTER steht auf, geht zu ihm und legt ihm die Hand auf die Schulter. Schau, Ernst, ist es nicht möglich, daß du dir ein bißchen mehr Freiheit schaffst – jetzt – du hast ja ohnehin keinen Urlaub genommen?

ERNST zögernd. Ich fühle mich ja wirklich ganz gesund Laut und gequält. und ich muß arbeiten, arbeiten. – Aufblickend. Wirklich, Mama, ich bin ja ganz wohl.

MUTTER. Es ist nicht allein deshalb. Ernst sieht sie fragend an. Das macht nämlich auch, verzeih mir, ich bin immer ganz offen, – daß die Sophie gar so elend ist. Sie ist soviel allein. Ernst zuckt die Achseln. Sie braucht dich doppelt in dieser Zeit. Da will dein Frauchen gehegt und gehätschelt sein. Hat ja Schmerzen um dich. Und ist den ganzen Tag allein und kommt auf allerlei Gedanken.

ERNST ängstlich. Glaubst du?

MUTTER. Ja, sie beobachtet sich und grübelt zu viel. Sie sinnt auf das und dies und warum und wozu. Und zu dem kommt immer die Sorge um dich, ob alles im Hause ist, wie du es brauchst, und ob dir nichts abgeht. Sie möchte gern nach allem sehen und kann es doch nicht und weiß, daß kein Verlaß ist auf die Dienstleute. Das quält sie. Und wenn du dich so wenig um sie bekümmerst, muß sie wirklich glauben, du nimmst ihr übel, daß sie nicht hinter allem her ist. Sie kann doch nicht.

ERNST. Aber darum handelt es sich ja gar nicht.

MUTTER. Sie faßt es so auf und grämt sich. – Schau, der Winter ist vor der Tür. – Wenn sie so elend in die kalten Tage hineinkommt – – Pause.

ERNST schauernd. Es ist Winter, ja Fährt sich über die Stirne,[853] müde, wie unwillkürlich. und sie ist im Frühling gestorben, – mitten im Frühling ... Rasch. oh ich muß arbeiten – viel arbeiten.

MUTTER milde. Laß das, Ernst. Denk nicht daran.

ERNST. Spricht er noch oft von ihr?

MUTTER. Der Vater? Er ist noch ganz gebrochen. – Das hab ich dich auch bitten wollen, – wenn du mal zu uns kommst, sprich nicht von Agla mit ihm; es greift ihn zu sehr an. Und denk selbst nicht daran. Ich hab gehofft, du hast es längst vergessen. Pause.

ERNST geht zur Couchette hin, setzt sich schwer und stützt den Kopf in beide Hände. Vergessen. Was hab ich denn zu vergessen? Ich hab ja kaum eine Erinnerung an sie. Ich hab sie ja kaum gekannt. Ich weiß ja kaum, wie sie ausgesehn hat. Ich rate ja nur: war sie blond? ja. Ungefähr. War sie klein, war sie ....? Ich rate ja nur. Ich weiß ja nichts. Ich weiß nur, daß sie für mich gestorben ist. Er bricht in Tränen aus.

MUTTER tritt erschreckt hinzu. Gotteswillen. Was ist dir denn? Du weißt doch: die Unglückliche war krank, war ...

ERNST sieht auf und schüttelt den Kopf. Ich weiß gar nichts.

MUTTER ängstlich. Sophie ist nebenan. Sie darf nicht ahnen, daß du noch manchmal an Agla denkst.

ERNST aufstehend. Ah – drum muß ich arbeiten. Er macht sich bereit, zu gehen.

MUTTER ruhig. Noch eine Weile hör mich, Ernst. Du bist doch ein so nüchterner und vernünftiger Mensch, du darfst dich doch nicht hinreißen lassen von solchen Dingen.

ERNST. Ja. Ich hab mich immer so sicher gefühlt davor,[854] so drüber hinaus ... Aber gerade deshalb. Siehst du, Mama. Ich habe immer Alles verstanden im Leben. Es hat für mich keine Wunder gegeben, nicht einmal Überraschungen. Alles war so klar. Alles war: Arbeit. Sogar meine Liebe, Sophie. Ich hab mir sie still und sicher erworben Schritt für Schritt. Und da auf einmal kommt das Eine, das ich nicht verstehe Laut. es giebt etwas, das ich nicht verstehe. Darüber komm ich nicht hinaus. Ich glaube mir nichts mehr. Ich kann mir ja nichts mehr glauben. Ich bin ja widerlegt. Ich kann von vorn anfangen.

MUTTER. Du bist nervös.

ERNST leise. Also dir ist es nichts Besonderes. Du meinst, das kommt so alle Tage vor. Man spricht nicht weiter darüber. Du hörst zufällig: der und der ist für dich gestorben. Du hast ihn kaum gekannt. Aber du fragst nicht danach. Was war er denn eigentlich? Wie sah dieses Leben aus, das er um deinetwillen zerstört hat; was war drinnen? Du fragst nicht. Es paßt dir so ganz in deine Erfahrungen. Es hält dir einer sein Leben hin, wie ein weißes Blatt, und bittet: schreib deinen Namen drauf. Wenn du's nicht magst – zerreißt er das weiße Blatt natürlich – vor deinen Augen – mitten durch. Das ist ja so einfach. Oh. Schlägt mit einem Seufzer die Hände vors Gesicht.

MUTTER. Sst! – Ernst, ich bitte dich. Du erschreckst mich. Näher herzutretend. Haben wir nicht früher oft in aller Ruhe darüber gesprochen? Es war doch alles gut. Du bist wirklich überreizt jetzt. Nimm dich doch zusammen. Du kommst darüber weg.[855]

ERNST. Ja, wenn ich überm Pult bin. Oder wenn ich in der Fabrik irgendwo mit angreife, wenn ich an der Maschine stehe, und sehe, wie glatt und hart und sicher sich alles dreht. Da ist es fort. Da denk ich, so ist das Leben. Da gehör ich wieder mir – aber ....

MUTTER. Und wenn du etwas auf eine alte Frau giebst, so will ich dir das beste Heilmittel sagen. Bleib mehr zu Hause. Setz dich zu Sophie. Lies ihr etwas vor, erzähl ihr etwas.

ERNST macht eine Bewegung der Ungeduld.

MUTTER. Glaub mir. Sie hat dich so lieb. Sie wird dirs danken. Sie ahnt ja nichts von dem, was dich quält und darfs nicht ahnen. Aber gerade deshalb kann sie dirs so leicht fortnehmen von der Seele. Denkst du denn nie daran, daß sie dir ein Leben unterm Herzen trägt, daß das eine heilige Zeit ist ...


Ernst nickt.


MUTTER. Willst du denn, daß sie sich grämt, und krank wird, sehr krank ....

ERNST erschrocken. Hat der Arzt? ....

MUTTER. Sie ist so zart.

ERNST sich aufraffend. Ich muß jetzt fort. Zögernd. Aber – vielleicht mach ich mich ein wenig frei und bin in einer Stunde wieder da ....

MUTTER aufatmend. Ich habs ja gewußt.

ERNST. Sags ihr.

MUTTER. Gleich. Wird die sich freuen. Glücklich. Mein lieber starker Junge. Unsereins ist doch auch über manches hinausgekommen und ist doch lang nicht aus so gesundem Holz.[856]

ERNST umarmt sie gerührt. Mama!

MUTTER Tränen zurückdrängend. Nun, nun ... geh nur jetzt rasch, damit Sophie nicht lange warten muß. Und du kommst?

ERNST fest. Ich versprech dirs.


Durch die Erkertüre ab.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 4, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 852-857.
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