2.

[679] Wer hat bedacht, daß bis zu ihrem Kommen

der viele Himmel unvollständig war?

Der Auferstandne hatte Platz genommen,[679]

doch neben ihm, durch vierundzwanzig Jahr,

war leer der Sitz. Und sie begannen schon

sich an die reine Lücke zu gewöhnen,

die wie verheilt war, denn mit seinem schönen

Hinüberscheinen füllte sie der Sohn.


So ging auch sie, die in die Himmel trat,

nicht auf ihn zu, so sehr es sie verlangte;

dort war kein Platz, nur Er war dort und prangte

mit einer Strahlung, die ihr wehe tat.

Doch da sie jetzt, die rührende Gestalt,

sich zu den neuen Seligen gesellte

und unauffällig, licht zu licht, sich stellte,

da brach aus ihrem Sein ein Hinterhalt

von solchem Glanz, daß der von ihr erhellte

Engel geblendet aufschrie: Wer ist die?

Ein Staunen war. Dann sahn sie alle, wie

Gott-Vater oben unsern Herrn verhielt,

so daß, von milder Dämmerung umspielt,

die leere Stelle wie ein wenig Leid

sich zeigte, eine Spur von Einsamkeit,

wie etwas, was er noch ertrug, ein Rest

irdischer Zeit, ein trockenes Gebrest –.

Man sah nach ihr; sie schaute ängstlich hin,

weit vorgeneigt, als fühlte sie: ich bin

sein längster Schmerz –: und stürzte plötzlich vor.

Die Engel aber nahmen sie zu sich

und stützten sie und sangen seliglich

und trugen sie das letzte Stück empor.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 679-680.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Marien-Leben
Das Marien-Leben...
Insel Bücherei, Nr.43, Das Marien-Leben
Das Marien-Leben: Vorgestellt von Richard Exner