Eine Sibylle

[568] Einst, vor Zeiten, nannte man sie alt.

Doch sie blieb und kam dieselbe Straße

täglich. Und man änderte die Maße,

und man zählte sie wie einen Wald


nach Jahrhunderten. Sie aber stand

jeden Abend auf derselben Stelle,

schwarz wie eine alte Citadelle

hoch und hohl und ausgebrannt;


von den Worten, die sich unbewacht

wider ihren Willen in ihr mehrten,

immerfort umschrieen und umflogen,

während die schon wieder heimgekehrten

dunkel unter ihren Augenbogen

saßen, fertig für die Nacht.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 568.
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