Leichen-Wäsche

[588] Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Doch als

die Küchenlampe kam und unruhig brannte[588]

im dunkeln Luftzug, war der Unbekannte

ganz unbekannt. Sie wuschen seinen Hals,


und da sie nichts von seinem Schicksal wußten,

so logen sie ein anderes zusamm,

fortwährend waschend. Eine mußte husten

und ließ solang den schweren Essigschwamm


auf dem Gesicht. Da gab es eine Pause

auch für die zweite. Aus der harten Bürste

klopften die Tropfen; während seine grause

gekrampfte Hand dem ganzen Hause

beweisen wollte, daß ihn nicht mehr dürste.


Und er bewies. Sie nahmen wie betreten

eiliger jetzt mit einem kurzen Huster

die Arbeit auf, so daß an den Tapeten

ihr krummer Schatten in dem stummen Muster


sich wand und wälzte wie in einem Netze,

bis daß die Waschenden zu Ende kamen.

Die Nacht im vorhanglosen Fensterrahmen

war rücksichtslos. Und einer ohne Namen

lag bar und reinlich da und gab Gesetze.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 588-589.
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