Venezianischer Morgen

[608] Richard Beer-Hofmann zugeeignet


Fürstlich verwöhnte Fenster sehen immer,

was manchesmal uns zu bemühn geruht:

die Stadt, die immer wieder, wo ein Schimmer

von Himmel trifft auf ein Gefühl von Flut,


sich bildet ohne irgendwann zu sein.

Ein jeder Morgen muß ihr die Opale

erst zeigen, die sie gestern trug, und Reihn

von Spiegelbildern ziehn aus dem Kanale

und sie erinnern an die andern Male:

dann giebt sie sich erst zu und fällt sich ein


wie eine Nymphe, die den Zeus empfing.

Das Ohrgehäng erklingt an ihrem Ohre;

sie aber hebt San Giorgio Maggiore

und lächelt lässig in das schöne Ding.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 608-609.
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