Vor-Ostern

[595] Neapel


Morgen wird in diesen tiefgekerbten

Gassen, die sich durch getürmtes Wohnen

unten dunkel nach dem Hafen drängen,[595]

hell das Gold der Prozessionen rollen;

statt der Fetzen werden die ererbten

Bettbezüge, welche wehen wollen,

von den immer höheren Balkonen

(wie in Fließendem gespiegelt) hängen.


Aber heute hämmert an den Klopfern

jeden Augenblick ein voll Bepackter,

und sie schleppen immer neue Käufe;

dennoch stehen strotzend noch die Stände.

An der Ecke zeigt ein aufgehackter

Ochse seine frischen Innenwände,

und in Fähnchen enden alle Läufe.

Und ein Vorrat wie von tausend Opfern


drängt auf Bänken, hängt sich rings um Pflöcke,

zwängt sich, wölbt sich, wälzt sich aus dem Dämmer

aller Türen, und vor dem Gegähne

der Melonen strecken sich die Brote.

Voller Gier und Handlung ist das Tote;

doch viel stiller sind die jungen Hähne

und die abgehängten Ziegenböcke

und am allerleisesten die Lämmer,


die die Knaben um die Schultern nehmen

und die willig von den Schritten nicken;

während in der Mauer der verglasten

spanischen Madonna die Agraffe

und das Silber in den Diademen

von dem Lichter-Vorgefühl beglänzter[596]

schimmert. Aber drüber in dem Fenster

zeigt sich blickverschwenderisch ein Affe

und führt rasch in einer angemaßten

Haltung Gesten aus, die sich nicht schicken.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 595-597.
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