Intérieurs

I. Man muß sie gesehen haben, diese kleinen und ganz kleinen Städte in meiner Heimat. Sie haben einen Tag auswendig gelernt; den schreien sie immerfort wie große graue Papageien in die Sonne hinein. Nah an der Nacht aber werden sie namenlos nachdenklich. Man sieht es den Plätzen an, daß sie sich bemühen, die dunkle Frage zu lösen, die in der Luft liegt. Das ist rührend und ein wenig lächerlich für den Fremden. Denn er weiß ohneweiters: giebt es eine Antwort – irgendeine –,[399] dann kommt sie bestimmt nicht von den kleinen und ganz kleinen Städten meiner Heimat her, – sie mögen sich noch so ehrlich anstrengen, die Armen.


II. Wenn ich an kleine Mädchen denke, die gerade große Mädchen werden (das ist keine langsame zaghafte Entwickelung, sondern etwas seltsam Plötzliches), so muß ich mir hinter ihnen ein Meer denken, oder eine ernste, ewige Ebene oder sonst etwas, was man eigentlich nicht schauen, sondern nur ahnen kann und auch das nur in stillen, tiefen Stunden. Dann sehe ich die großen Mädchen ebenso groß, als ich die kleinen und kinderhaften winzig gewohnt war; – und weiß der liebe Himmel weshalb ich sie nun einmal so sehen will. Es hat alles seinen Grund. Aber die besten Dinge und Ereignisse sind doch die, welche ihre Ursache mit beiden Händen verdecken, sei es aus Bescheidenheit oder weil sie nicht verraten sein wollen.


III. Aber trotzdem: auch in den kleinen und ganz kleinen Städten meiner Heimat werden die kleinen Mädchen über Nacht große Mädchen. Ich kann es nicht hindern und kann auch nachträglich kein Meer hinter ihrem Rücken ausgießen, weil das zur Folge hatte, daß die jüngeren Brüder, die ihr Zehn-Uhr-Butterbrot noch in der Schule essen, beim Heimkommen erzählen müßten: »Was in der Geographie steht ist falsch. Und der Herr Lehrer hat gelogen. Er hat uns gesagt, daß das Meer tief unten beginnt, ganz am Rand der Landkarte von Österreich-Ungarn. Und nun ist es mitten im[400] Königreich Böhmen – das Meer.« Und ich weiß, daß die kleinen Klugheiten überlegen lächeln bei solchen Erkenntnissen. Und doch ist das Lächeln über das Meer, das ich unerwartet mitten in Böhmen gemacht habe, lange nicht so licht, wie die Freude, mit welcher sie sich selber angesichts der blanken Dielen oder des Furchenfeldes befehlen: das ist das Meer. So will ich die Schöpfung diesen kleinen Allmächtigen überlassen und mich damit zufrieden geben, daß hinter den Mädchen, die ich meine, wirklich und wahrhaft die Ebene liegt.


IV. Freilich: es ist nicht die Ebene, die ich meine. Nicht die müßigen Moräste zwischen Lucca und Pistoja, über denen die Vögel schnell und ängstlich fliegen, als ob sie fürchteten müde zu werden mitten in dieser haltlosen Traurigkeit. Es sind nicht die faltigen Flächen der Mark, in denen wachsame Flügelmühlen auf den nächsten Wind warten. Und auch die Felder in Westpreußen sind das nicht, die schon fast Meer bedeuten und einen leisen breiten Wellenschlag haben, in dem sie das Gold ihrer Abende langsam sammeln. Es sind einfach die böhmischen Gebreite, reich und ruhig. Und man hebt sich nicht ab von ihnen, man wird nicht ein Einsamer. Immer sind ein paar Kirsch- oder Apfelbaume da, neben denen man unbedeutend und gesellig aussieht, man mag noch so allein und ratlos sein im Herzen.


V. Und, weiß Gott weshalb, ich denke, daß meine Mädchen also sind. Je mehr ihrer beisammen stehen,[401] desto einsamer wird eine jede. Die welche hinzutritt zu dem schweigsamen Schwesterkreis, geht eigentlich fort und das Furchtbare ist, daß keiner weiß wohin. – Ein alter Mann hat mir einmal am Abend gesagt, daß alle Wege, die man nicht kennt, zu Gott führen. Er hat es bestimmt gewußt und ich glaube es ihm auch heute noch. Aber ich fürchte nur, daß meine Mädchen zu ganz verschiedenen Zeiten bei Gott ankommen, so daß die Ersten schon wieder weiter sind, wenn die Zögernden atemlos und mit heißen Gesichtern vor Ihm staunen. Auf diese Weise können sie sich nie und nirgends Alle wiedersehen. Wenn man nämlich annimmt, daß Nichts bei Gott bleibt, sondern über Ihn hinaus strebt, ja vielleicht erst recht anfängt sich zu rühren, wenn es Ihn gefunden hat.


VI. Meine Mädchen finden weder, noch suchen sie. Sie können sich überhaupt nicht erinnern, daß sie einmal gesucht haben. Sie wissen nur dunkel von verschiedenen Funden, die in die Zeit vor dem Groß-Werden gehören. Was sich ihnen damals wider Erwarten in die scheuen, braunen Händchen schmiegte oder in die viel scheueren Herzen, das haben sie aufbewahrt all die Jahre lang; mochte es eine verbogene Brosche oder ein verlorenes Wort gewesen sein. Man sinnt so gern, wem die Dinge gedient haben und wozu. Ich habe mich immer, sooft ich einen Fund getan habe, wie ein Erbe gefühlt, der die Herrschaft antritt nach einem unbekannten König. Und aus dieser Erfahrung heraus behaupte ich, daß meine Mädchen die rechtmäßigen[402] Erbinnen vergangener Frauen sind, die schöne und schwere Kronen getragen haben.


VII. Bei Knaben heißt Groß-Werden, mündig werden. Die großen Mädchen aber sind viel unmündiger als die kleinen. Die kleinen küßt man offen und oft; die großen möchte man heimlich küssen. Das ist ein Unterschied und sicher der seltsamsten einer. Die Knaben wachsen so stramm und stetig in ihr Mannsein hinein; auf einmal paßt es ihnen: du weißt nicht wie. Die Mädchen lassen plötzlich ihr Kinderkleid los und stehen furchtsam und frierend da am Anfange eines ganz anderen Lebens, in dem die Worte und die Münzen, welche sie gewohnt waren, nichts mehr gelten. Sie entwickeln sich nur bis an die Schwelle ihrer Reife regelmäßig und ruhig. Von da an verwirren sich die Uhren. Mancher Tag ist wie gar keiner und hinter ihm kommt eine Nacht, die ist: wie tausend Tage.


VIII. Alte Leute vom Land erzählen davon, daß die jungen Mädchen in der guten Zeit, die sie die ihre heißen, an den langen Nachmittagen des Herbstes zu Rocken gingen. In der großen gastlichen Stube, drin sich die ganze Freundschaft sittsam zusammenfand, saßen sie sinnend im Rund, und oft sprach das frühe Feuer für sie, das sich im dachigen Kachelkamin auf dem herrschaftlichen Holz behaglich ausstreckte. Ein Duft von weißem, feinem Linnen, hausbackenem Rosinenkuchen (nach geheimem Rezept) und heißem prasselndem[403] Tannenharz, richtig gemischt und um meine gütige alte Tante Zdeni sorglich ausgebreitet, könnte wohl bewirken, daß der feinen, greisen Frau manches wieder einfiele, was sie fünfundvierzig Jahre vorher in dieser ahnungsvollen Atmosphäre empfand. Aber wir haben nicht die Mittel diesen wundersamen Weihrauch zu wecken, und meine gütige Tante Zdeni versichert, es müsse sich alles Schöne, was sie damals sann, fest in den Fäden der weißen Gewebe finden, die sie das ganze Jahr unberührt in dem Schranke aus mattem Mahagoni verwahrt hält; denn da es nicht in ihrem langen Leben war, wird es wohl in den Tischtüchern geblieben sein, meint sie.


IX. So ist es immer. Eher webt man seine Träume tief in Tücher ein, als daß man sie so neben dem Leben her wachsen ließe, in dem sie nicht genug Sonne hätten, um auszureifen. Wenn man zu Ende ist, läßt man sie in kleinen und scheinbar wertlosen, altmodischen Dingen zurück, die bis an ihr eigenes Zugrundegehen nichts verraten. Nicht etwa weil sie schweigen, sondern weil sie sentimentale Lieder singen in einer Sprache deren letzter Versteher gestorben ist und für welche es keine Wörterbücher und keine Lehrer giebt. So hilft mir denn auch meiner tugendsamen Ahnin, der Josepha Christin von Goldberg elfenbeinbesetztes Spinnrad nur schlecht zum Verständnis der rockenreifen Mädchen in den kleinen und ganz kleinen Städten meiner Heimat.[404]


X. Sie müssen mir selber helfen. Wundersam ist die Hilfe der Hilflosen und heilig. Ihr Verstummen oder Staunen ist vielleicht ein stärkeres Beistehen als die riesigen Reden, die in der Überzeugung von neunundneunzig Gerechten gedeihen. Und dann: wenn du neunundneunzig Gerechte erst gefunden hast, verzichtest du sicher gerne darauf, sie auch noch reden zu hören; denn es waren dann vielleicht gar nicht mehr neunundneunzig. Meiner Mädchen indessen sind mühelos mehr. Denn wenngleich ich nur die in meiner Heimat zahle, weiß ich doch, daß aus allen Orten, in denen ich ein Ave läuten gehört habe, Viele leise mitgehen, und ich tue als ob ich es nicht bemerkt hätte. So wachst die Wanderzahl langsam an, und ich habe Mühe die Menge zu überschauen, die sich dunkel an mir vorüberdrängt.


XI. Sie sind Schwestern von Gewand. Sie sind Verwandte in ihrer Angst, Abschiednehmende in ihrer Freude und Fremde von Herz zu Herz. Sie haben das Gemeinsame um sich und in sich je eine eigentümliche Einsamkeit, in der Gebräuche und Gebete gelten, von denen wir uns nicht träumen lassen. Sie sind jede wie eine Religion, die vom Munde eines offenbarenden Gottes unterwegs ist: die zu einem verschmachteten Geschlecht, zu einem schwachgeschwelgten Stamme jene. Sie tragen jede eine Schale voll Erfüllung in den rhythmisch zitternden Händen, aber keine weiß, an welche Lippen ihr glänzendes Gefäß grenzen wird.
[405]

XII. In den Büchern stehen die Geschicke derjenigen aufgezeichnet, die besonders glücklich oder unglücklich, besonders heilig oder besonders häßlich von Herzen waren. Dann Episoden aus dem Leben einer jeden; Hoffnungen und Heimlichkeiten, Ohnmachten und Offenbarungen geordnet nach dem Alphabet des Alters und der Erfahrung. Man spricht dort entweder von den Mädchen auf dem Land, oder von den Mädchen in den Städten, oder wohl gar von einem einzigen Mädchen, welches aus dem einen Rahmen in den anderen geschoben wird. Man beschreibt dort entweder ein Mädchen dem nichts oder ein solches dem Alles geschieht; oder mit besonderer Vorliebe wählt man auch da ein Beispiel, an dem sich beides der Reihe nach zeigen läßt, welches als sehr lehrreich und spannend empfunden wird. Das ist nun einmal so Sitte geworden in den Romanen und bei denen, welche sich mit dem Erdichten von Geschichten, Begebenheiten und Schicksalen befassen.


XIII. Man kann nichts gegen diese ruhige und beschauliche Beschäftigung vorbringen; denn die Geschichte des Zoroaster, des Plato, Jesu-Christi, des Columbus, des Lionardo und des Napoléon und noch mehrerer Menschen mußte geschrieben werden, das heißt sie schrieb sich sozusagen von selbst. Eine jede dieser handelnden Personen zog eine Furche in das große graue Gehirn der Erde, und wir alle tragen eine kleine Reproduktion dieses Urhirnes in uns, nach der Art der Taschenuhren oder der kleinen runden Kompaßpillen, die anzeigen, wo die Sonne aufgeht über einen biederen[406] Bürgerbauch. Später entstand auch die Geschichte seltener Frauen; doch da war schon ein leises Beihelfen notwendig und für das geozentrische Haupthirn war eine Logik und eine Mnemotechnik erfunden worden, auf welche selbst die Historiker von heute stolz sind. In den jüngsten, halbverhallten Jahrhunderten hat man sich immer mehr um das »paysage intime« bemüht, will sagen, man hat die Geschichte der namenlosen Menschen erzählen wollen. Der Eine oder der Andere glaubte nämlich bemerkt zu haben, daß eine Schlacht nicht notwendig bei Thermopylä, Hastings oder Austerlitz, sondern gelegentlich bei Angst, Sehnsucht oder Undank Raum hat, und daß nicht jede Entdeckung auf ein Amerika, nicht jedes Erfinden auf Pulver, Dampfmaschine oder Luftschiff fallen muß, um bedeutend und in einem bestimmten Begriff fruchtbar zu sein. Dabei ist es üblich geworden, statt beglaubigter Helden, glaubhafte hinzustellen. In dieser Absicht zerreißt man seit vielen Jahrzehnten die Heroen der Vergangenheit und die brauchbaren Zeitgenossen und fügt aus unkenntlichen Stücken neue und immer neue Möglichkeiten zusammen, die sich wie interessante oder seltsame Menschen ausnehmen sollen, wenigstens wenn man sie im richtigen Licht und von einer bestimmten Stelle aus betrachtet. Man stellt unablässig Versuche an, erfindet Gesetzmäßigkeiten, vor denen ältere Gesetze mäßig erscheinen, und man hat große Freude, wenn man ein Präparat, dem man den Kopf statt auf dem Rumpf, auf der Zehe des rechten Fußes angeheftet hat, eine Weile lebendig erhält. Dabei[407] wird man klug. Das heißt man legt sich eine Sammlung mehr oder minder ernster Erfahrungen an und muß immer noch ein Zimmer zu mieten, um alle Früchte des rüstigen Forscherfleißes unter Dach zu halten. Bei einer solchen Sichtung werten natürlich die seltenen Arten und unerwarteten Nuancen am schwersten. Und es mag sein, daß reife Menschen, die sich heftig von ihrer Umgebung abheben, merkwürdige Dinge erleben und das obendrein auf die merkwürdigste Art. Man pflegt zu sagen: ihr »Schicksal« begründe das größere Interesse, und man meint damit zweierlei: das, was ihnen von außen zustößt, und ihr Verhältnis und Verhalten den Angriffen und Eindrücken gegenüber.


XIV. Wenn ich aus meinen vielen Mädchen und einigen Bruchstücken Jeanne d'Arc, Charlotte Corday und Katharina Emmerich / um nur eine Mischungsmöglichkeit zu streifen / eine Gestalt zusammenfüge, dann kann auch ich mich einer Heldin rühmen, die, wenn sie sich erst ans Bücken gewöhnt hat, in den Häusern der kleinen Städte gern und gastlich verkehren wird. Aber meine Mädchen seh ich bange werden. Sie fürchten, ich würde sie über alle Abgründe zu einander zerren, und von der Einen das und von der Zweiten ein Anderes und von keiner alles* wollen; sie haben Angst, daß sie als Halbverschmähete mit der halben Habe in den enttäuschten Händen zurückbleiben, wie weiße Rosen durch die ein Sturm gegangen ist mit breiten, rücksichtslosen, schrecklichen Schultern.
[408]

XV. Da sehe ich in ihren Gesichtern und Gestalten hundert und hundert Bangigkeiten. Klare und dunkle, traumhafte und wachsame, entsagende und sehnsüchtige Ängste drängen auf mich zu oder fliehen furchtsam vor meinem Blick ins Unbestimmte. Da weiß ich, daß ich nicht zehn oder zwanzig Mädchen zu einer Heldin zusammenzwingen darf. Ich muß vielmehr die Eine, an die ich denke, ausbreiten über alle tausend Schwestern, die sie immer begleiten. Nur wenn ich von tausend Mädchen rede, wird es scheinen, daß ich von einem etwas Liebes und Heimliches weiß; nur wenn unzählige ihre Stimmen vor einen, wird auch der Fernste und der Traurigste einen Hauch jenes hohen Liedes spüren, das seinesgleichen nicht hat.


XVI. Fra Fiesole hat in den großen Freskobildern, auf denen er einsame strenge Gestalten darstellt, in jeder die Hoffnung auf den Himmel schlicht und schön ausgesprochen. Aber auf den vielen, vielen gottatmenden Angesichten der Engel des »Jüngsten Gerichtes« hat der Himmel selber mit Heiterkeit und Hoheit und Hymnen Raum. Sie sind das farbenfältige Mosaik seiner Macht, und es giebt seiner kein Bild, welches gleich groß und reich und ergreifend wäre.


XVII. Frauen hat es viele gegeben. Müde, wie die blonde Maria, böse wie Berechta von Rosenberg, welche vor dem Tode her leise durch Böhmens Burgen geht, und gute wie Elisabeth, die liebliche Landgräfin von Thüringen, deren Bangnis Rosen aus Brot blühen[409] heißt. Und dann die vielen Mütter überhaupt. Aber hat es schon Mädchen gegeben vor meinen Mädchen? Auf keinem Wege kannst du die Spur solcher Füße finden. Umsonst suchst du diesen leichten Abdruck in allem Sand. Er ist wie ein Mal auf der Wange eines Kindes, das auf seinem Händchen geschlafen hat. Winzige Mulden bleiben im Weg, wie unter der Last einer Liebkosung zurück – hinter den Mädchen; vor ihnen ist Alles glatt und blank. Entweder sind sie also die ersten, oder die vor ihnen sind immer über Wiesen gegangen oder über dunkles, duftendes Moos oder über das Meer?


XVIII. Wird jemand wissen: daß auch auf dem Steinpflaster des Bürgersteiges kein Bild des Fußes bleibt. Darauf ist zu antworten: daß es in diesen kleinen Städten noch nicht allzuviel eingemauerte Gassen giebt. Wenigstens der Fahrdamm ist fast überall noch ein Strom Staubes, aus dem man sich nach den festeren Rändern retten mag. Aber meine Mädchen schreiten mitten durch; immer dort, wo sie viel Himmel über sich fühlen, und auf kleinen weißen Wolken gehn sie durch die ganze Stadt. Mit keinem Woher hinter sich und so ohne Wohin. Gehen einfach. Vielleicht, damit sie ihr Blut nicht so laut branden hören. Gehen im tastenden Takte dieses heimlichen Wellenschlages. Sind der stille Strand ihrer ruhlosen Unendlichkeit. Finden niemals den gleichen Schritt. Wanken gegen einander, wie von vielen, feindlichen Winden bewegt. Winken jede anderswohin. Wenden zögernd an der Ecke um, wenn der Wind ihnen Worte von den Lippen reißt, die sie[410] noch nicht gewollt haben. Den gleichen Weg kommen sie zurück, und immer wieder wandern sie hin und her zwischen zwei Gassen. Wie Wartende sind sie. Irren immer in einer einzigen Viertelstunde herum. Statt hinauszuziehen in die Zeit wie eine weiße Prozession mit einer fremden feurigen Fahne.


XIX. Geh hinter ihnen einmal. Unwillkürlich senkt sich dein Blick; denn ihre lichten Kleider blenden. Dein Auge fällt mit halbversengten Flügeln auf den Fahrdamm, der wie ein breites Buch und aufgeschlagen ist. In seine Blätter haben vergangene Wagen Linien gelegt. Und das ist gut. Denn die Schritte der Mädchen können nicht grade schreiben. Viele Schriften führen die Furchen entlang. Auf und ab. Als ob jemand bei Nacht geschrieben hätte oder wie Briefe von Blinden. Und doch merkt man bei einiger Mühe und Übung, daß das lauter lange Gedichte sind, Improvisationen, durch die wachsend und wechselnd ein seltsamer Rhythmus rinnt. Die gleichen Reimworte kehren immer wieder. Wie Flehende. Du findest dieselben an allen Türen warten. Rührende, schlichte Worte sind es, Lauten, welche nur eine einzige Saite haben. Eine silberne, – denkst du; und du lässest dich von ihrem Ton begleiten bis in den Traum.


XX. Wenn meine Mädchen wandern und sich bewegen, schwanken ihre Seelen langsam wie Kähne, die an ein unruhiges Ufer gebunden sind. – Denn ihre Seelen sind Gondeln von Gold und voller Ungeduld. Sie sind[411] ganz verhangen mit alten, sanften seidenen Stoffen, so daß es ewig dämmert in ihnen. Die Mädchen lieben dieses duftende Dunkel mit seinen schönen unerschöpften Möglichkeiten. Sie wohnen darin. Selten, wenn die Falten des Vorhangs sich rühren, ritzt sie das Licht. Und sie staunen dann einen Augenblick ein Stück Stube an oder einen Garten, der gerade Abend hat. Und sie erschrecken leise, daß es Stube und Garten und Abend giebt. Und sie heben die Furcht vor diesen vielen Dingen in das seidene Dunkel ihres Lebens hinein und falten die Hände davor. So sind ihre Gebete..


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Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 5, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 395-396,399-413.
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