Der Rote Münchhausen

[299] Ich trat am 1. Januar 1913 wieder in Stellung. Bei dem Freiherrn Börries von Münchhausen, Dr. jur., auf Apelern und Windischleuba, Herzoglich Altenburger Kammerherr, Hannover.

In der Landschaftsstraße Nummer 2 wohnte dieser liebenswürdige und bedächtige Herr mit seiner Frau, einer Hausdame und Dienstmädchen. Ich sollte gegen freie Station seine Kunst- und Büchersammlungen ordnen. Die waren zwar nicht annähernd von dem Ausmaß und dem Wert wie die in Klein-Oels, aber originell. Alte und neue Literatur, Bilder, Münzen, schmiedeeiserne Sachen und Kruzifixe in allen Größen.

Auch in dem Zimmer, das man mir zum Bewohnen gab, hingen Kruzifixe, und sie machten das Zimmer nicht heller. Ich war nun freilich von Klein-Oels her verwöhnt. Hier war in meiner Fensterscheibe ein Loch, das einen kalten Zug hereinließ. Ich machte das Zimmermädchen darauf aufmerksam. Daraufhin erschien sie am nächsten Tage verlegen, um das Loch mit Papier zu verkleben. Man hatte eine Holzplatte über zwei Böcke gelegt. Das war mein Tisch.

Der Baron und die Baronin empfingen mich mit einer Freundlichkeit, hinter der ich bald eine ehrliche Herzlichkeit erkannte. Sie[299] erzählten mir, daß sie meine Bewerbungsbriefe zuvor graphologisch untersucht hätten. Wir nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein, wobei auch die langjährige, fürsorgliche Hausdame und sozusagen Adjutantin des Barons zugegen war. Die Unterhaltung entfaltete sich lebhaft und natürlich. Die Baronin war eine liebe, gebildete Dame. Sie sammelte Spitzen. Der Baron interessierte sich trotz seiner vorgerückten Jahre auch für moderne Literatur. Sein Sohn war der bekannte Balladendichter gleichen Namens. Wenn auch meine Ansichten in manchem von denen des Kammerherrn abwichen, so blieb das doch ohne Belang für die Harmonie zwischen uns.

Den Roten Münchhausen nannten ihn seine Standesgenossen, nicht wegen seiner politischen Gesinnung – er war Welfe –, sondern seiner Haare wegen. Außer dem Hause in der Landschaftsstraße besaß er noch Güter in Apelern und Windischleuba.

Zwischen und in den arg verstaubten Büchern – ich mußte niesen, wenn ich sie herauszog – fand ich zu meinem Erstaunen einen abscheulichen Mist von Makulatur, Briefen, leeren Kuverts, Reklameschriften usw. usw. Z.B. auch zahllose Etiketts von Selterwasserflaschen. Sie pflegte der Baron im Wirtshaus abzulösen und mitzunehmen. »Man kann alles eventuell noch einmal gebrauchen«, sagte er. Ich aber warf den ganzen Dreck ins Feuer.

Als ich mich in meinem Zimmer, so gut es ging, eingerichtet hatte, schickte der Kammerherr das Mädchen zu mir, ob ich noch irgendeinen Wunsch hätte. Ich bat um einen Papierkorb. Nach einiger Zeit kam das Mädchen zurück und reichte mir, wieder verlegen, ein seltsames Kunstwerk. Der Baron hatte aus Pappe eine Tüte gedreht, das spitze Ende eingedrückt und mit Hilfe von Musterklammern das Ganze zu einem Papierkorb gestaltet. Ich boxte diese unförmige Mißgeburt sofort in den Ofen, was wegen der engen Ofenklappe nicht leicht war; das Stubenmädchen half mir lächelnd.

Morgens zum Frühstück aß der Baron Äpfel. Äpfel aus seinen eigenen Gärten. Da er aber die faulen Äpfel nicht umkommen lassen wollte, aß er immer nur faule Äpfel. Er hatte eine spaßige, krankhafte Sucht, nichts umkommen zu lassen, alles aufzubewahren. Die Apfelkerne, die Zigarrenasche, die verbrauchten Zündhölzer wurden in großen Kupferkübeln gesammelt. Da trat ich denn ziemlich revolutionär auf.

Ich ließ mich nicht davon abbringen, mittags in Schwarz zu[300] erscheinen. Von einem Geflügel blieb dort nichts übrig als ein meisterhaftes anatomisches Präparat. Von jeher hatte ich eine Vorliebe für Soße. Wenn aber der Kammerherr sagte: »Mein lieber, junger Freund, tunken Sie doch die Soße mit Brot auf, sie ist ja das Beste«, dann lehnte ich das entschieden ab. »Ich würde mir nie erlauben, an Ihrer Tafel, Herr Kammerherr, die Soße aufzuwischen.« Solchen Oppositionskampf führte ich aber in heiterer und, ich glaube, auch nicht in respektloser Weise. Der Baron nahm ihn mit weisem Humor auf. Es schien eine erfreuliche Privatsonne über seinem Hause.

Gewöhnlich besuchte er mich abends auf meinem Zimmer, besprach dann die bibliothekarischen Angelegenheiten, plauderte über dies und jenes oder las mir begeistert Gedichte seines Sohnes vor, wobei seine Blicke immerzu fragten: Ist das nicht schön?

Um mir Geld zu verschaffen, schrieb ich aufs Geratewohl Reklamegedichte über alle möglichen Fabrikate, die ich unaufgefordert an die betreffenden Firmen sandte. Ich schrieb über Persil; als Dank sandte mir die Firma eine Kiste Waschpulver zu, mit dem ich gar nichts anfangen konnte. Ich schrieb über eine bestimmte Automarke und wartete mit einem Schimmer von Hoffnung darauf, daß eines Tages ein geschenktes Kabriolett anrollen würde. Statt dessen erhielt ich einen Autostraßen-Atlas.

Eine Sektfirma sandte mir für ein Gedicht eine Präsentkiste mit sechs Flaschen Sekt, die mir für meinen armen Pegasus eine hochwillkommene Anfeuerung bedeutete. Als der Baron mich zur Abendstunde besuchte, blieb er fast erschrocken in der Tür stehen, da er mich vor einer Flasche Sekt sitzen sah. Ich stellte mich, als ob ich sein Erstaunen gar nicht bemerkte: »Guten Abend, Herr Kammerherr.«

»Haben Sie Geburtstag?«

»Nein. – Hier habe ich ein höchst interessantes Buch – –«

»Ja, was ist denn das??« Der Baron zeigte auf den Sekt.

»Sehr interessantes Buch. Sehen Sie, hier, Herr Kammerherr, im Avantpropos – –«

»Sie trinken Champagner?«

»Das Zeug schmeckt nicht recht«, sagte ich blasiert, »wenn ich aber Herrn Kammerherrn ein Glas anbieten –«

Er wehrte ab.

Einmal morgens sah ich ihn aufgeregt vorm Spiegel stehen und seinen Anzug ordnen. Er trug seinen Staatsfrack mit dem[301] Kammerherrnschlüssel am rechten Rockschoß und um den Hals einen Orden mit leuchtendem Band. Ich war grausam genug, das völlig zu übersehen und gar nichts zu fragen. Bis er von selbst erzählte, warum er so offiziell gekleidet war. Er hatte im Namen des Herzogs einen Kranz am Grabe eines verstorbenen Adligen niederzulegen.

Ich ließ mich für ein paar Wochen beurlauben, weil mein Vater schwer erkrankt war. Ich fand Papa im Bett liegend, mager, blaß und elend. Meine Mutter und meine Schwester, die ihn seit Tagen pflegten, hatten ihn bereits aufgegeben und waren selbst durch die aufreibenden Tag- und Nachtwachen ganz apathisch geworden. Vater erkannte mich für kurze Zeit. Ich beugte mich nieder, um ihn zu küssen, aber er winkte mir ab mit einer Gebärde des Ekels vor sich selbst, weil er unrasiert war. Dann verfiel er wieder in Fieberträume und redete unaufhörlich verworren vor sich hin.

So wachte ich oft an seinem Lager und lauschte seinen verschlungenen Phantasien. Mitunter sprach ich selber sanft und langsam etwas hinzu, was der Kranke auch manchmal auffing und in seinen Reden weiterspann. »Glaubst du an Gott?« fragte ich einmal.

»Ach, das ist ja alles dummes Zeug«, sagte er. Aber so, wie er das sagte, klangen seine Worte durchaus nicht überzeugt, sondern nur rührend hilflos. Dann ging er gleich auf anderes über, und von Zeit zu Zeit klang der gutmeinende Oppositionsgeist heraus, den er gerade mir gegenüber so oft gezeigt hatte.

Einmal zeichnete ich meinen Vater, da er schlief. Eine kleine Skizze, die ich selber liebgewann.

Ich bat den langjährigen Arzt und Freund meiner Eltern, den Doktor Riemer, um offene Meinung. Er sagte, das Schlimme wäre, daß der Patient jede Nahrung verweigere und sogar den stärkenden Wein seines geliebten und verehrten Freundes Johannes Trojan zurückweise. Wenn man ihn dazu bringen könnte, wieder Speise und Trank anzunehmen, würde er sich vielleicht noch einmal erholen.

Als ich wieder allein am Krankenlager saß und Vater gerade einen lichten Moment hatte, schenkte ich ein Glas von Trojans Wein ein und sagte: »Willst du den? Ich glaube, der taugt nichts, der ist von Johannes Trojan.«

»Trojan? – – Trojan! Oh, der ist ein Weinkenner!« flüsterte Vater lächelnd, griff nach dem Glas und trank etwas. Dann ging ich[302] auf die Straße und grub unter dem schmutzigen Stadtschnee eine Handvoll sauberen Schnees heraus. Den hielt ich meinem Vater an die Lippen, und er bewegte diese Lippen und schlürfte von dem Schnee. Von da an war er wieder zum Essen zu bewegen.

Ich mußte abreisen. Aber Mutter, Ottilie und die Freunde brachten Vater mit aufopferungsvoller Pflege und Liebe wieder zur Genesung.

Während meines Urlaubs war die Frau des Barons von Münchhausen gestorben. Dadurch war die Situation in trauriger Weise so verändert, daß ich nun auch nicht mehr lange bei dem Baron blieb, sondern sein Haus am 1. April 1913 verließ. Er gab mir beim Scheiden ein vornehmes Geldgeschenk und, was noch rührender war: Er hatte in stundenlanger Arbeit die verschlungenen Initialen meines Namens nach eigenem Entwurf säuberlich gezeichnet und aufgemalt, als Dedikation für mich.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 299-303.
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