München vor dem Kriege

[310] Als der Sommer vorbei war, reiste ich noch für kurze Zeit wieder nach Eisenach und dann weiter nach München.

Diesmal konnte ich nicht bei Seelchen wohnen, weil sie ihre freien Zimmer schon vermietet hatte. So zog ich zu meinem lieben Freunde Oskar Dolch, der in seiner halb einfach, halb kostbar, mit Geschmack eingerichteten Wohnung ein Zimmer und ein Bett für mich übrig hatte.

Ich packte meine Bücher aus, die ich in Klein-Oels aus der Ressource-Bibliothek erworben hatte und die ich nun weiterverkaufen wollte. Das Ordnen und Katalogisieren nahm Tage und Wochen in Anspruch. Abends trat ich im »Simpl« auf, wo ich mit Hallo empfangen worden war und noch den alten Ruf genoß.[310]

Dolch fuhr nach Paris in kunsthändlerischen Interessen und ließ mich allein in seiner Wohnung zurück. Das war eine interessante und lustige Parterrewohnung Ecke Barer- und Adalbertstraße. Sie lag zu ebener Erde, und Dolch war wie gesagt ein großer Frauenkenner und Frauenfreund. Daher kam es, daß ich schon in der ersten Nacht nach seiner Abreise kaum zum Schlafen kam. Weil immer wieder von mehr oder weniger zarten Fingern ans Fenster geklopft wurde. Ich schob die Gardine beiseite und winkte herein. Das nächstemal winkte ich ab. Das dritte-, vierte-, fünftemal reagierte ich überhaupt nicht. Das sechstemal winkte ich wieder herein. Ich lernte auf diese Weise sehr viele Mädchen aus verschiedenen Ständen kennen. Oftmals war ich besorgt, daß sie etwas stehlen könnten. Denn Dolch besaß außer großen, seltenen holländischen Ölgemälden auch kleinere und ganz kleine Kunstwerke, alte Meistergeigen, Miniaturen usw.

Es trat auch ein Fall von Diebstahl ein. Der verlief so: Abends, da ich es sehr eilig hatte, begegnete mir bei strömendem Regen ein ärmliches Mädchen, das mir durch sein hilfloses und verhungertes Aussehen auffiel. Nur deshalb sprach ich sie an. Sie erzählte, daß sie in Augsburg gewesen und nun zurückgekehrt wäre, aber in das Haus ihrer Tante, bei der sie wohnte, nicht hereinkönnte, weil die Tante anscheinend verreist wäre. Da ich zum Abendessen zu C.G. von Maassen eingeladen war und andererseits an Dolchs Kunstschätze dachte, sagte ich: »Liebes Kind, du kannst bei mir schlafen, aber ich muß ausgehen und muß dich einschließen.« Damit war das junge Ding dankbar einverstanden. Nachdem ich ihr noch etwas zu essen und zu trinken gegeben hatte, legte sie sich in mein Bett und schlief sofort wie ein todmüder Mensch ein. Ich schloß die Wohnung hinter ihr ab und eilte zu Maassen. Dort ergab sich wieder eines von den übermütigen Gelagen auf der Basis von Aristokratie, guter Kinderstube, Kunst, bibliophiler Literatur, Geist, Witz, politischem Unverständnis oder Uneinigkeit und Geschmack. Das alles verschieden auf die einzelnen verteilt. Aber das Zusammensein war bestimmt nicht langweilig. Das Fest, für uns damals ein Allnachtsvergnügen, dauerte bis etwa acht Uhr morgens. Ich schlenderte heim und fand in meinem Bett das inzwischen vergessene Mädchen noch in tiefem Schlaf. Da ich mich ein wenig in der Wohnung umsah, entdeckte ich, daß mir ein paar unbedeutende Gegenstände fehlten. In einer offenen Schachtel hatten zwei Paar Manschettenknöpfe gelegen. Das eine, aus[311] schönem, chinesischem Gold hatte mir Onkel Martin einmal geschenkt, und ich hing daran und hänge heute noch daran, und es hängt heute auch noch an mir. Das also fand ich noch vor. Aber zwei andere wertlose, plumpe Manschettenknöpfe fehlten, große Stücke aus Zinn, Rennpferde in Peitschenverzierung. Leise durchsuchte ich die dürftigen Kleider der Schlafenden. Ich fand in ihrer poweren Handtasche zwei Schlüssel, meine Pferdeknöpfe und ein Notizbuch, in dem nichts weiter stand als »Ich wandle wie im Traum einher dem Paradiese zu«. Ich war sehr zornig über diesen Vertrauensbruch, weil ich ja von dem Mädchen nichts verlangt und gehabt, sondern ihr nur gegeben hatte. Ich wollte sie schlagen. Natürlich nicht im Schlaf, aber doch war ich damals so, daß ich, wenn auch in bester Absicht, sehr hartherzig vorging. Ich weckte sie, ließ sie sich waschen und ankleiden und frühstückte mit ihr. Dann sagte ich: »Halte einmal deine Hand auf. Ich will dir etwas schenken.« Da ließ ich aus meiner geschlossenen Hand jene Pferdeknöpfe in ihre Hand fallen. Das Mädchen sank in die Knie. Ich gab ihr eine Ohrfeige und sagte: »Die Polizei ist benachrichtigt und wird gleich kommen. Du hast mich belogen, ich weiß alles.« Sie weinte sehr und gestand, daß sie ihrer Mutter entlaufen wäre usw. Hier hätte ich spätestens abbrechen sollen, aber ich meinte, daß ich den Schreck, den ich ihr zur Lehre einjagen wollte, noch steigern müßte. So ging ich hinaus auf den Korridor, klingelte, markierte eine Flüsterunterhaltung und sagte zurückkehrend: »Die Polizei ist da, komm.« Da fiel das Mädchen steif wie ein Stock um. Ich hob sie auf und sagte: »Kind, tu so etwas nie wieder. Diesmal geschieht dir nichts, du bist jetzt frei.« Da flog sie davon, selig wie ein freigegebenes Vögelchen. Ich sah ihr durchs Fenster nach, und mein Herz klopfte noch lange in Aufregung.

Auch aus dem »Simplizissimus« verschleppte ich Weiber nach Villa Dolch. So eine englische Admiralsfrau, die den verstorbenen Maler Leistikow verehrte und mich in ihrer Betrunkenheit zuletzt mit ihm verwechselte und unaufhörlich sagte: »Poor little Leistikow« Ich gab mich in solchen Fällen als Maler, wollte die betreffende, sich geschmeichelt fühlende Dame porträtieren, zeigte in der Wohnung auf die holländischen Meisterbilder an den Wänden mit der Bemerkung, daß das meine letzten oder frühere Arbeiten von mir wären. Dann drang ich darauf, daß die Dame den Busen entblößte, der ganz besonders schön wäre, also auch zuerst gezeichnet werden müßte. Ich fand bei Dolch große Pappstücke[312] und auch Zeichenkohle. Mit ein paar einfachen Strichen skizzierte ich die Frauenbusen, dann brach ich meine porträtistischen Arbeiten ab. Als Dolch wieder von Paris zurückkehrte, fand er zu seiner Verwunderung hinter einem Schrank eine Menge Pappstücke, auf denen Kugelpaare gezeichnet waren.

Manchmal zogen wir – Freunde und Freundinnen mit Weinflaschen und Gitarren – zu dritt, zu fünft, zu zehnt noch spät nachts nach dieser Wohnung. Dort spielten sich dann phantastische Orgien ab, tanzten nackte Mädchen auf Tischen, während gleichzeitig gewisse Gruppen über Kupferstiche gebeugt, kunstverständig und gebildet diskutierten. Bis die roten Köpfe dampften und die Fensterscheiben blau wurden.

Endlich hatte ich die Aufstellung und Katalogisierung meiner Bücherei beendet. Maassen und andere bibliophil interessierte Freunde kauften mir einige anständig ab. Das andere bot ich einem Antiquar an. Der kam, riß die sorglich geordneten Bücher auseinander, warf auf einen Haufen diejenigen, von denen er sagte, daß sie noch einigermaßen zu gebrauchen wären, und bot mir schließlich dafür einen so niedrigen Preis, daß mich Zorn, Schreck und Enttäuschung darüber völlig verblüfften und ich die Bücher für dieses Schandgeld hingab. Auf ähnlich traurige Weise ging dann auch der Rest dieser schönen Büchersammlung auseinander.

In einem Hotel am Stachus wohnte die Königin von Neapel. Ich sah sie einmal, da sie vorm Portal aus ihrer Equipage stieg. Sie trug ein prächtiges Blumenbukett. Das schenkte sie einer ärmlich uniformierten Ritzenschieberin, die gerade dort stand, und schritt dann majestätisch ins Hotel. Das kleine, blöde Trambahnschienenweiberl sperrte wortlos den Mund auf und blickte ratlos auf die Blumen.

Ich zog wieder zu Seelchen in mein altes, behagliches Zimmer, und die goldige Tante sorgte für mich wie für einen Sohn, lud auch gelegentlich meine Freunde ins Haus. Nachts tingeltangelte ich im »Simpl«.

Einmal wollte ich einem Kinde als Geburtstagsgeschenk einen Beutel voller Kupferpfennige schenken. »Aus Alaska.« Ich hatte mir hundert bis zweihundert Pfennige zurückgelegt und fragte nun in einer Drogerie, wie ich diese Münzen blank machen könnte. Man gab mir Salzsäure. Ich saß in meinem Stübchen, hatte die Pfennige in eine Glasschale geschüttet und goß die Salzsäure darüber. Sofort füllte sich das Zimmer mit beißendem Rauch. Ich[313] öffnete das Fenster, wollte die Glasschale auf den äußeren Fenstersims stellen, verschüttete etwas von dem Inhalt auf die Tischdecke, weil die Schale heiß war. Mittels einer Zange bugsierte ich sie etappenweise auf einen Stuhl, auf den Fußboden, auf den Waschtisch, dann aufs innere und dann aufs äußere Fensterbrett. Überall dabei die alles zerfressende Säure verspritzend. Als ich endlich den Hexenkessel mit Wasser zur Ruhe gebracht hatte, waren von den Kupfermünzen nur noch papierdünne Blättchen übrig.

Seelchen pflegte Verkehr mit Damen aus den Ersten Kreisen. Dadurch kam ich dazu, bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung mitzuwirken. Der König von Bayern hatte sein Erscheinen zugesagt. Unter anderem wurde ein berühmtes Freskengemälde als Lebendes Bild gezeigt. Das stellte St. Franziskus einem Partner gegenüber dar. Und ich spielte darin, oder richtiger gesagt, ich stand schweigend, regungslos darin als Heiliger Franziskus. Kurz vor dem Auftritt wurden mein Gesicht, meine Hände und was sonst von mir nicht durch eine weiße Toga verhüllt blieb, mit einer weißen Flüssigkeit bestrichen. Der Vorhang ging auf. Ich dachte regungslos an den König. Ich merkte, daß die weiße Schminke ein kleines Bläschen auf meinen Lippen bildete. Um das zu entfernen, öffnete ich unauffällig ein wenig den Mund, worauf aus dem Bläschen eine große Blase wurde. Der König kam aber um diese kleine Komik, weil eine ungeschickte Regie einen Harfenspieler so vor mir postiert hatte, daß er mich völlig verdeckte.

Man lebte in München damals sorgenlos und machte sich deshalb unbewußt künstliche Sorgen, indem man überkritisch oder übermütig wurde und am Kleinlichsten herummäkelte.

Ich suchte nach einem Beruf, ließ mich in Lewalters Kunstschule für Schaufensterdekoration für einen Kursus aufnehmen. Ein ziemlich trauriger Unterricht. Ein bißchen Theorie um den Goldenen Schnitt. Dann ein bißchen Praxis. Wir kriegten Kleiderstoffe, die wir drapieren mußten, oder Taschentücher oder Attrappen. Das Ganze zog sich kümmerlich so etwa zwei Monate hin. Ich bestand lächelnd das Examen, erhielt ein Zeugnis und auch sofort einen praktischen Auftrag.

Ich Schaufensterdekorateur sollte das Ladenfenster eines Delikateßhändlers in der Kaulbachstraße weihnachtlich dekorieren. Das wurde mir nach Vereinbarung bezahlt. Großen Eindruck machte es mir, daß mich der Ladenbesitzer während meiner Arbeit[314] in ein Hinterzimmer rief, mir eine Riesentasse Kaffee und ein reichliches Essen vorsetzte und sagte: »So, lieber Mann, jetzt stärken Sie sich erst mal.« Da er mir im übrigen völlig freie Hand ließ, glaubte ich nun, außer den erlernten technischen Kenntnissen auch meinen persönlichen künstlerischen Intuitionen freien Schwung geben zu können. Ich türmte Würstchendosen übereinander, kippte sie um, warf zwischen diesen gewollten Trümmerhaufen kunstvoll spielerisch verstreut Tannenzweiglein. Ich ließ eine Zervelatwurst wie ein Dornröschen verstrickt in Lametta hängen, ich verfolgte Perspektiven, unterbrach einen strengen Pyramidenbau aus Käsen plötzlich durch einen Teller niedlicher Pfeffergürkchen. Ich verlegte den Goldenen Schnitt um die Länge einer Gänsebrust, warf aber dafür sanfte Flocken von Watteschnee auf ein schweinisches Durcheinander von schamlosen Schinken. Als ich fertig war und mein Geld und obendrein Dank erhalten hatte, besah ich mir das Ganze noch einmal von außen. Da erkannte ich, daß es ein abscheulich kleinliches Kitschgebilde geworden war. Ich habe nie wieder ein Schaufenster dekoriert, aber ich respektiere diese Kunst.

Heiliger Abend. Weihnachten bei Seelchen, Weihnachten unter Junggesellen im »Simpl« bei Kathi Kobus. Weihnachten bei Grammophon, Schlagermusik und Tanz in großer Zechgesellschaft bei von Maassen. Der Weihnachtsbaum dort war nicht mit vergoldeten Nüssen und Lametta, sondern mit ausgeschnittenen und rückseitig obszön bemalten Figuren aus Modejournalen verziert. Maassen hatte immer überraschende Einfälle, und wie man zu denen auch stehen mochte, so war doch schon Maassens Eifer anerkennenswert.

Wieder kam ein Fasching, und als er zu Ende war, feierten wir in Schwabing ihn inoffiziell weiter. Immer neue Menschen lernte ich kennen. Außer dem »Simpl« gab es eine florierende Künstlerkneipe »Der Bunte Vogel«. Das Plakat dazu war von Weisgerber entworfen. Er hatte auch lustige Puppen geschnitzt, mit denen Unold, Foitzick und ich auf einer improvisierten Bühne Kasperletheater spielten. Die Wirtin Hedy König war eine temperamentvolle, beliebte Dame. Sie stand in einem freundschaftlichen Verhältnis zu einem sehr intelligenten Studenten namens Cortüm, einem kleinen, höchst schneidigen Burschen, der auch viel dazu beitrug, daß im »Bunten Vogel« ein ausgelassenes Tohuwabohu herrschte.[315]

Und immer neue Menschen lernte ich kennen. Da war ein Offizier a.D. namens Utsch, der sein ganzes Leben damit verbrachte und darauf aufgebaut hatte nachzuweisen, daß ein Ahne von ihm jener »Jäger aus Kurpfalz« gewesen war.

Dann hielt Erich Mühsam wieder eine seiner politischen Versammlungen ab, zu denen man wie in ein Lustspiel ging. Andermal hatte Mühsam ein paar halbreife Burschen veranlaßt, eine mit Pulver und Nägeln gefüllte Blechbüchse vor dem Rathaus zur Explosion zu bringen. Resultat: Von einem Rathausbaustein war eine Handvoll Mörtel abgefallen. Die Münchner Neuesten Nachrichten brachten einen Leitartikel »Das Bombenattentat Erich Mühsams«. Solche Sorgen hatte man damals dort.

Ich wurde Mitglied des Vereins Süddeutscher Bühnenkünstler. Maassen, Unold, Weisgerber, Hoerschelmann, Vegesack, der Maler Körting, Foitzick, Emil von Lilienfeld, Mühsam, Schulmann, Floerke, Queri, Roda Roda, Kubin, Hoerhammer und viele andere waren dabei oder zu Gast, nur selten ein Schauspieler und noch seltener ein Süddeutscher.

In einer kleinen Weinstube am Viktualienmarkt kamen wir zusammen, tranken viel Schoppenwein und führten brausend und wild improvisierte Opern auf, bis Polizeistunde. Die photographischen Blitzlichtaufnahmen aus jener Zeit zeigen, welch unerhört lebendige und überschäumende Besoffenheit uns beherrschte. Von dort zog man weiter. Die Straßen waren schon leer. Ein armseliges Strichmädchen stand im Schatten. Wir machten alle abfällige Bemerkungen über die »Alte Schlampe«.

Ein Betrunkener oder ein Handwerksbursche lag schlafend unter einem Torbogen. Emil von Lilienfeld ging zurück und steckte dem Schlafenden Geld in die Hosentasche. Wir andern folgten diesem Beispiel.

Einer von uns trennte sich, wollte nach Hause gehen. An der nächsten Ecke nahm ein zweiter Abschied, weil er sehr früh wieder aufstehen müßte. Bald danach sagte auch ich Adieu, ließ die anderen weitergehen, vermutlich in die Wohnung von Maassen, wo die Raben, die Burgunderflaschen und der Mokka warteten. Ich aber stieß zufällig mit den beiden anderen Freunden zusammen, die sich vor mir verabschiedet hatten. Wo? Im Schatten bei der alten Schlampe.

Der schlafende Bettler und die alte Schlampe: Das erlebten wir nicht in der gleichen Nacht. Aber wir erlebten jede Nacht etwas.[316]

Und immer bis zum hellen Morgen. Von dem Bier- und Weißwurstlokal Donisl, das früh um fünf eröffnete, ging man zu einem Café am Marienplatz, wo es schlechten Kaffee gab, aber wir blieben doch wenigstens zusammen. Man unterhielt sich mit dem selbsterfundenen Geographiespiel, bei dem die Verlierenden 10 Pfennige in eine Vereinskasse zahlten. Damit wir eines kommenden Tages einmal im Smoking vornehm bei Böttner zu Abend speisen konnten. Oder Emil mußte uns das rührende Vergißmeinnichtlied vorsingen. Das tat er gern und ärgerte sich doch trotzdem jedesmal, weil wir nicht über das Lied weinten, sondern vor Lachen über Emil prusteten.

Ungefähr dieselben Leute, die zum Verein Süddeutscher Bühnenkünstler gehörten, hatten eine Geheimverbindung »Hermetische Gesellschaft« gegründet. Auch ich wurde dort aufgenommen, nachdem ich gewisse, mir vorgelegte Examensfragen beantwortet hatte. Allerdings so ungenügend beantwortet hatte, daß ich nicht als vollwürdig, sondern nur als »kleiner mittlerer Seitenvater Appendix« aufgenommen wurde. Ich war auch in dem anderen Verein und überhaupt in dieser Gesellschaft nicht so ganz voll angesehen.

Die »Hermetische Gesellschaft« war eine sehr gelehrte und mystische. Sie hatte nahezu eine eigene Sprache, hatte eigene Gebräuche, eigene, selbst gezeichnete Bilder an den Wänden, eine eigene Münzführung, eine geheime Kasse, geheime Namen und ein geheimes Sitzungsbuch. Etwas in mir sträubt sich, mehr zu verraten. Denn die »Hermetische Gesellschaft« ist nie formell aufgelöst worden, und wenn ich zuviel verriete, fürchte ich Rache. Eins will ich nur noch sagen: Daß wir es unserer Überzeugung nach waren, die eine damals gegründete Zeitschrift »Der Turmhahn« (Otto Ernst) zum Kentern brachten. Und daß wir es unserer Behauptung nach waren, die den Weltkrieg hervorriefen.

Da feierte einmal einer von uns, der Maler Körting, die Taufe seines jüngsten Kindes und lud dazu die ganze Hermetische Gesellschaft ein. Es ging sehr festlich zu. Nach dem Taufakt setzte man sich zur Tafel, und der Pastor wünschte in einer milden Rede Glück und Segen für das getaufte Kind und dessen Eltern. Er mußte aber sehr erstaunt sein, als sich bald danach Unold ernst erhob und eine lange Rede, teils in lateinischen, teils in hermetischen Worten hielt, wonach wir anderen hermetischen Väter unter sonderbaren Zeremonien sonderbare Geschenke und Urkunden[317] für den Täufling niederlegten, ich eine Kette mit einem Schweinszahn. So begann dieses Fest, und es endete mit einer sehr peinlichen Schlägerei. Im Morgengrauen wanderte ich mit einer Gruppe heim. Jemand sagte zu mir: »Kleiner mittlerer Seitenvater Appendix, so wie das heute zuging: Das bedeutet Krieg.«

Ich blieb der kleine mittlere Seitenvater auch im Café Glasl, wo wir einen Nachmittagsstammtisch und eine dicke Stammkellnerin Tina, sogar eine kleine originelle Bibliothek hatten. Die Unterhaltung bestand aus einer übersättigten Witzelei, der ich wegen zu langsamen Denkens meist nicht nachkam. Erich Mühsam brachte etwa einen neuen Schüttelreim, sogar einen Schleifenreim:


Das war das schöne Fräulein Liebetraut,

Das an den Folgen einer Traube litt.

Da wurden ihr im Magen Triebe laut,

Worauf sie schnell in eine Laube tritt.


Und Maassen hatte sogar eine neue Dichtungsform gefunden, das Hugonott genannt, weil es mit Hugo beginnen mußte.


»Hugo«, sprach ich. Hugo nieste.

»Hugo«, sprach ich. Hugo spießte

Eine Filzlaus mit dem Pfeil.

»Hugo«, sprach ich, »Weidmannsheil!«


Politisches wurde hauptsächlich abends und besonders spät nachts erörtert, wenn die Köpfe vom Alkohol erhitzt waren. Die Affäre des Leutnants von Zabern gab Anlaß, dann die Ansprache des Kronprinzen: Ich freue mich auf den Tag, wo ich an der Spitze meines Regiments gegen Frankreich reiten werde. – Erregte stundenlange Debatten über die Möglichkeit und Aussichten eines Krieges. Maassen, der einen schneidigen Husarenoffizier zum Bruder hatte, war der festen Überzeugung, daß wir im Falle eines Krieges unseren Gegner mächtig verdreschen würden. Wenn Maassen sich in Begeisterung darüber ausließ, konnte man ihn sich vorstellen, wie er aus seiner schönen Bücherei herausritt in gestreckter Karriere, mit eingelegter Lanze, um an der Spitze seines Regimentes – –. Als schärfster Gegner dieser Ansicht trat der besonnene Dolch auf, der Sozialdemokrat und gegen den Krieg war. Zwischen ihm und Maassen kam es zu hitzigen Wortgefechten. Ich stand mit Kopf und Herz ganz auf Dolchs Seite. Wir drei pendelten nachts oft noch stundenlang zwischen der Haustür des[318] einen und der Haustür des anderen hin und her, um auszustreiten.

Es lag etwas in der Luft. Und uns ging es so gut.

Seelchen reiste nach Lengenfeld zur Sommerfrische. Ich blieb allein in ihrer Wohnung zurück.

Nach vierundzwanzig oder achtundvierzig durchzechten Stunden gingen Maassen, Unold und ich einmal zunächst ins Ungererbad und dann durch den Englischen Garten, wo wir alles, was uns an Weiblichkeiten begegnete, jung oder alt, arm oder reich, schön oder häßlich, ansprachen und für einen bestimmten vordatierten Nachmittag in Maassens Wohnung zu Kaffee und Kuchen einluden. Als dieser Nachmittag anbrach, stand eine gedeckte Tafel mit reichlich Kaffee und Kuchen bereit. Wir hatten angenommen, daß von den dreißig geladenen Frauen zirka vierzehn kommen würden. Ich glaube, es erschienen sechs. Darunter waren eine dreiste Kokotte, ein sehr unsicheres Dienstmädchen und eine Witwe aus Berlin, die eine Heilkräuteressenz fabrizierte, im übrigen aber eine gutmütige, arme und krampfadrige Person war.

Es lag etwas in der Luft. Und wir lebten zu gut.

Der Mord in Sarajewo wurde bekannt. Dem folgten die weiteren weltpolitischen Publikationen. Die Leute sammelten sich vor den Zeitungsgebäuden und vor den angeschlagenen Extrablättern. Man nahm Stellung. Man erregte sich. Im Café Fahrig erhoben sich plötzlich die Gäste und zerschlugen die Fensterscheiben, weil eine serbische Kapelle spielte.

Neue Mädchen lernte ich kennen, lustige, perverse, rührende. Einsame wie z.B. die schwindsüchtige Margot Fichtner.

Die Amseln pickten vor meinem Fenster in dem Futter, das ich ihnen gestreut hatte. Sie kamen von dem nahen Friedhof herüber, wo sie in den schönen Bäumen nisteten und flirteten. In diesem Friedhof lag Seelchens Mutter begraben.

Aber die Amseln nahmen nicht alles von dem Futter. Käserinden lehnten sie ab. Sie waren wählerisch und verwöhnt. Es war Juli. Juli 1914.[319]

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 310-320.
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